Das Lied der Dunkelheit
barsch zurecht.
»Gestern Nacht ist ein Kurier eingetroffen«, fuhr Leesha ungerührt fort. »Ich habe das Hornsignal gehört.«
»Kurz vor Sonnenuntergang«, bestätigte die Alte, »keinen Augenblick zu früh! Was für ein bodenloser Leichtsinn!« Sie spuckte verächtlich aus.
»Bruna!«, schalt das Mädchen. »Was habe ich dir über die Angewohnheit gesagt, im Haus zu spucken?«
Die Alte linste sie aus leicht zusammengekniffenen, triefenden Augen an. »Du hast gesagt, dass ich in meinem eigenen Haus tun und lassen kann, was ich will. Auch auf den Boden spucken, wenn mir danach ist!«
Leesha zog die Stirn kraus. »Ich bin mir sicher, dass ich etwas anderes gesagt habe!«
»Nicht, wenn du mehr Grips im Kopf hast, als dein Busen vermuten lässt«, versetzte die Alte und schlürfte ihren Tee.
In gespielter Entrüstung klappte Leesha den Mund auf, aber von Bruna war sie noch weitaus derbere Töne gewöhnt. Bruna
tat immer nur das, was sie wollte, und sie nahm kein Blatt vor den Mund. Und sie ließ sich von niemandem etwas sagen.
»Dann bist du also wegen des Kuriers so früh nach draußen gegangen«, unterstellte ihr Bruna. »Wohl in der Hoffnung, dass er ein schmucker junger Kerl ist, was? Wie war noch sein Name? Ich meine den Burschen, der dich so treuherzig anschaut wie ein Hundewelpe.«
Leesha lächelte ironisch. »Seine Blicke erinnern mich eher an einen Wolf.«
»Na, das ist sogar noch besser!« Die Alte kicherte und tätschelte Leeshas Knie. Das Mädchen schüttelte den Kopf und stand auf, um den Tisch abzuräumen.
»Nun sag schon, wie heißt der Bursche?«, drängte Bruna.
»Es ist nicht so, wie du denkst«, wich Leesha aus.
»Für solche Spielchen bin ich zu alt«, knurrte Bruna. »Ich will sofort seinen Namen wissen!«
»Er heißt Marick«, antwortete Leesha und verdrehte die Augen.
»Soll ich eine Kanne Pomeranzenblättertee aufbrühen, bevor der junge Marick hier auftaucht?«, erkundigte sich Bruna.
»Ist das alles, woran die Leute denken?«, ärgerte sich Leesha. »Ich unterhalte mich gern mit ihm, weiter nichts.«
»So blind bin ich nicht, um nicht zu sehen, dass der Junge mehr von dir will als ein paar schöne Worte«, behauptete Bruna.
»Wirklich nicht?«, spottete Leesha und verschränkte die Arme. »Wie viele Finger halte ich in die Höhe?«
Bruna schnaubte durch die Nase. »Gar keinen«, knurrte sie, ohne Leesha auch nur anzusehen. »Ich kenne diesen Trick«, fuhr sie fort, »und ich weiß auch, dass Maverick der Kurier dir während all eurer Gespräche kein einziges Mal in die Augen gesehen hat.«
»Er heißt Marick«, verbesserte Leesha, »und er schaut mir sehr wohl in die Augen!«
»Nur, wenn er dir gerade mal nicht in den Ausschnitt stieren kann«, trumpfte die Alte auf.
»Du bist unmöglich!«, schimpfte Leesha.
»Das ist doch kein Grund, um sich zu schämen«, meinte Bruna. »Wenn ich so schöne Titten hätte wie du, würde ich sie auch zur Schau stellen.«
»Ich stelle sie nicht zur Schau!«, schrie Leesha, aber Bruna fing nur wieder an zu kichern.
Ganz in der Nähe ertönte ein Hornsignal.
»Das wird der junge Meister Marick sein«, schlussfolgerte Bruna. »Nun lauf schon los und mach ihm schöne Augen!«
»Es ist nicht so, wie du denkst!«, protestierte Leesha wieder, aber Bruna winkte ab.
»Ich brühe den Tee auf, nur für alle Fälle«, erklärte sie. Leesha warf einen Lappen nach der alten Frau und streckte die Zunge heraus, doch sie steuerte bereits auf die Tür zu.
Draußen auf der Veranda erwartete sie lächelnd die Ankunft des Kuriers. Bruna bedrängte sie beinahe genauso aufdringlich, sich einen Ehemann zu suchen, wie ihre Mutter, aber die Alte tat es, weil sie es wirklich gut mit ihr meinte. Sie wollte, dass Leesha glücklich wurde, und dafür liebte das Mädchen sie umso mehr. Doch trotz Brunas Neckereien interessierte sich Leesha tatsächlich mehr für die Briefe, die Marick brachte, als für die hungrigen Blicke, mit denen er sie verschlang.
Seit sie ein Kind war, hatte sie den Besuchen der Kuriere entgegen gefiebert. Das Tal der Holzfäller war ein winziger Ort, doch er lag an der Straße, die drei größere Städte und ein Dutzend Weiler miteinander verband, und der Handel mit Bauholz sowie Ernys Papierherstellung machte die Siedlung zu einem bedeutenden Wirtschaftsstandort in der Region.
Mindestens zweimal im Monat suchten Kuriere das Tal der Holzfäller auf, und während der größte Teil der Post bei Smitt abgeliefert wurde, brachten sie die
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