Das Lied der Dunkelheit
er vor. »Dort kannst du es dann anziehen.«
Leesha seufzte. »Das würde ich zu gern tun«, lamentierte sie.
»Vielleicht bekommst du ja deine Chance«, meinte der Kurier mit einem listigen Unterton. Er machte eine übertrieben tiefe Verbeugung und holte weit mit dem Arm aus, um anzudeuten, dass Leesha vor ihm die Hütte betreten sollte. Das Mädchen lächelte und ging hinein, doch die ganze Zeit über glaubte sie seine brennenden Blicke auf ihrem Rücken zu spüren.
Als sie in die Stube traten, saß Bruna wieder in ihrem Schaukelstuhl. Marick ging zu ihr und verneigte sich tief.
»Nanu, der junge Meister Marick«, begrüßte Bruna ihn aufgeräumt. »Was für eine angenehme Überraschung!«
»Die Meisterin Jizell von Angiers lässt dich grüßen«, begann der Kurier. »Sie möchte, dass du ihr bei einem besorgniserregenden Fall hilfst.« Er griff in die Tasche und zog eine Papierrolle heraus, die von einer kräftigen Kordel zusammengehalten wurde.
Bruna gab Leesha einen Wink, sie solle den Brief in Empfang nehmen, dann lehnte sie sich zurück, schloss die Augen und hörte zu, als ihre Schülerin ihr den Inhalt des Schreibens vorlas.
»Verehrte Bruna, herzliche Grüße aus Fort Angiers im Jahr 326 NR«, hob das Mädchen an.
»Jizell schnatterte wie eine Ente, als sie noch bei mir in die Lehre ging«, fiel Bruna ihr ins Wort. »Und ihr Schreibstil ist genauso weitschweifig. Ich werde nicht ewig leben, lass das Geschwafel aus und komm zum Wesentlichen.«
Leesha überflog die Seite, drehte sie um und las dann, was auf der Rückseite des Blattes geschrieben stand. Es dauerte eine Weile, bis sie fand, wonach sie gesucht hatte.
»Ein Junge«, erklärte sie. »Zehn Jahre alt. Seine Mutter brachte ihn ins Hospital, weil er über Brechreiz klagte und sich sehr schwach fühlte. Keine weiteren Symptome und auch keine Vorerkrankungen. Man verordnete ihm Grimmwurz, Bettruhe, und er sollte viel Wasser trinken. Nach drei Tagen verschlimmerten sich die Symptome, zusätzlich bekam er einen Ausschlag an Armen, Beinen und auf der Brust. Die Grimmwurzdosis wurde im Verlauf von mehreren Tagen bis auf drei Unzen erhöht.
Es trat keine Besserung ein, der Zustand des Jungen wurde immer kritischer. Er fing an zu fiebern, und auf dem Ausschlag bildeten sich harte weiße Eiterbeulen. Salben zeigten keinerlei
Wirkung. Es folgte heftiges Erbrechen. Gegen die Schmerzen verabreichte man ihm Herzblatt und Mohn, und um den Magen zu beruhigen gab man ihm warme Milch zu trinken. Kein Appetit. Die Krankheit scheint nicht ansteckend zu sein.«
Bruna saß eine geraume Zeit lang da und ließ sich die Worte durch den Kopf gehen. Sie warf einen Blick auf Marick. »Hast du den Jungen gesehen?«, wollte sie wissen.
Der Kurier nickte.
»Hat er stark geschwitzt?«
»Allerdings, das hat er«, bestätigte Marick. »Und er zitterte, als ob ihm heiß und kalt zugleich sei.«
Bruna stieß einen Grunzlaut aus. »Welche Farbe hatten seine Fingernägel?«, fragte sie.
»Fingernagelfarbe«, erwiderte Marick und grinste.
»Werde bloß nicht frech, sonst kannst du was erleben!«, drohte Bruna.
Marick erbleichte und nickte. Ein paar Minuten lang stellte die Alte ihm eine Frage nach der anderen, und bei manchen Antworten brummte sie nachdenklich vor sich hin. Kuriere waren für ihr gutes Gedächtnis und ihre ausgezeichnete Beobachtungsgabe bekannt, und Bruna schien seinen Angaben voll und ganz zu trauen. Schließlich gab sie ihm ein Zeichen, er solle schweigen.
»Steht sonst noch etwas von Belang in dem Brief?«, wandte sie sich an Leesha.
»Sie würde dir gern eine Schülerin schicken«, erwiderte das Mädchen. Bruna verzog unwillig das Gesicht.
Leesha las vor: »Ich habe eine Schülerin, Vika, die ihre Ausbildung beinahe beendet hat. Aus deinen Briefen entnehme ich, dass auch deine Schülerin bald ausgelernt haben wird. Falls du nicht bereit bist, einen Neuling bei dir aufzunehmen, solltest du vielleicht einen Austausch unserer beiden Schülerinnen
in Erwägung ziehen.« Leesha schnappte nach Luft, und Marick setzte ein wissendes Grinsen auf.
»Ich habe dir nicht gesagt, dass du aufhören sollst zu lesen!«, schnauzte Bruna.
Leesha räusperte sich. »Vika hat das Zeug zu einer erstklassigen Heilerin«, fuhr sie fort. »Für die Bedürfnisse eines Ortes wie dem Tal der Holzfäller ist sie bestens geeignet, und sie könnte sich gut um dich kümmern, Bruna, und gleichzeitig von deiner Weisheit profitieren. Im Gegenzug könnte deine Schülerin Leesha
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