Das Lied der Dunkelheit
eine Menge lernen, wenn sie in meinem Hospital die Kranken pflegt. Ich bitte dich sehr, Bruna, gib wenigstens noch ein einziges Mal dein umfangreiches Wissen an eine würdige junge Frau weiter, ehe du aus dieser Welt scheidest.«
Bruna nahm sich viel Zeit für ihre Erwiderung. »Ehe ich mich entscheide, muss ich noch gründlich über diesen Vorschlag nachdenken«, meinte sie zum Schluss. »Und du, Leesha, kannst jetzt zu deinen Hausbesuchen im Dorf aufbrechen. Wenn du zurückkommst, beratschlagen wir, was in dieser Angelegenheit das Klügste wäre.« Zu Marick gewandt fuhr sie fort: »Morgen gebe ich dir meine Antwort. Leesha wird dir deinen Lohn aushändigen.«
Der Kurier verbeugte sich und verließ das Haus, während Bruna sich wieder in ihrem Stuhl zurücklehnte und die Augen schloss. Leeshas Herz raste vor Aufregung, doch sie hütete sich, die alte Kräutersammlerin zu stören, die nun auf der Suche nach einer Behandlungsmethode für den Jungen ihr Gedächtnis durchforstete und dabei auf einen Schatz an Erfahrungen zurückgreifen konnte, den sie in vielen Jahrzehnten zusammengetragen hatte. Also schnappte sie sich ihren Korb und schickte sich an, ins Dorf zu gehen.
Als sie auf die Veranda trat, wartete dort Marick auf sie.
»Du wusstest die ganze Zeit über, was in dem Brief stand«, warf Leesha ihm vor.
»Natürlich«, gab Marick zu. »Ich war ja dabei, als Vika ihn geschrieben hat.«
»Aber du hast es mir verschwiegen«, fuhr Leesha in anklagendem Ton fort.
Marick grinste. »Ich habe versprochen, dir ein Kleid zu schenken, das am Hals hochgeschlossen ist. Und das Angebot gilt immer noch.«
»Wir werden sehen.« Leesha lächelte und hielt ihm einen Beutel voller Münzen hin. »Deine Bezahlung.«
»Ein Kuss als Entlohnung wäre mir lieber.«
»Du schmeichelst mir, wenn du meinst, meine Küsse seien mehr wert als Gold«, gab Leesha schlagfertig zurück. »Ich hätte viel zu viel Angst, dich zu enttäuschen.«
Marick lachte vergnügt. »Mein Schatz, wenn ich von Angiers bis hierher und zurück den Dämonen getrotzt hätte und lediglich mit einem Kuss von dir als Entgelt zurückkäme, würde mich dennoch jeder Kurier beneiden, der das Tal der Holzfäller aufsuchte und dich sähe.«
»Nun, in diesem Fall sollte ich mit meinen Küssen vielleicht noch mehr geizen und darauf warten, dass sie im Preis steigen«, erwiderte Leesha voller Übermut.
»Damit triffst du mich mitten ins Herz!«, versetzte Marick und legte mit einer theatralischen Gebärde seine Hand auf die linke Brustseite. Leesha warf ihm die Geldkatze zu, die er geschickt auffing.
»Ist mir denn wenigstens die Ehre vergönnt, die hübsche Kräutersammlerin in den Ort zu begleiten?«, fragte er schmunzelnd. Er machte eine elegante Verbeugung und bot ihr seinen Arm an, damit sie sich bei ihm einhängte. Leesha konnte
gar nicht anders, als den forschen Kurier strahlend anzulächeln.
»In unserem Tal ist man in solchen Dingen eher zurückhaltend«, erklärte sie mit einem Blick auf Maricks einladende Geste. »Aber du darfst meinen Korb tragen.« Ohne viel Federlesens hängte sie ihm den Korb über den ausgestreckten Arm und marschierte ohne ein weiteres Wort los in Richtung Stadt, während der junge Mann dastand und ihr verblüfft hinterherstarrte.
Als sie im Ort eintrafen, wimmelte es auf Smitts Markt bereits von Kunden. Leesha fand sich gern früh dort ein, ehe man ihr die besten Waren vor der Nase wegschnappen konnte; und bevor sie in ihrer Eigenschaft als Kräutersammlerin die Runde machte, gab sie bei Dug, dem Metzger, ihre Bestellung auf.
»Guten Morgen, Leesha«, grüßte Yon Grey, der älteste Mann im Tal der Holzfäller. Sein ganzer Stolz war sein grauer Bart, der länger war als die meisten Frauenhaarschöpfe. Der einstmals kräftige Holzfäller hatte im Alter viel seiner Körpermasse verloren und stützte sich nun schwer auf seinen Gehstock.
»Guten Morgen, Yon«, erwiderte Leesha den Gruß. »Setzen deine Gelenke dir wieder zu?«
»Die Schmerzen sind immer noch da«, antwortete Yon. »Besonders die Hände tun weh. Manchmal kann ich kaum noch meinen Gehstock festhalten.«
»Trotzdem sind deine Finger immer noch gelenkig genug, um mich jedes Mal zu kneifen, wenn ich an dir vorbeikomme«, bemerkte Leesha.
Yon lachte meckernd. »Ach, Mädel, für einen alten Knacker wie mich wiegt dieser Spaß selbst die ärgsten Schmerzen auf.«
Leesha griff in ihren Korb und holte einen kleinen Krug heraus. »Für alle Fälle habe ich für dich
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