Das Lied der Dunkelheit
Briefe für Erny und Bruna persönlich vorbei und warteten oft auf eine sofortige Antwort. Bruna korrespondierte mit den Kräutersammlerinnen in Fort Rizon, Angiers, Lakton und mehreren Dörfern. Als ihre Augen immer schlechter wurden, übernahm Leesha die Aufgabe, die Briefe vorzulesen und die Antwortschreiben zu verfassen.
Selbst aus der Ferne zollte man Bruna Respekt. Die meisten Kräutersammlerinnen aus der näheren und weiteren Umgebung waren irgendwann einmal bei ihr in die Lehre gegangen. Häufig suchte man ihren Rat, um Krankheiten zu kurieren, mit deren Heilung man keine oder nur wenig Erfahrung hatte, und jeder Kurier übermittelte Angebote, ihr neue Schülerinnen zu schicken. Brunas umfangreiches Wissen sollte an so viele angehende Kräutersammlerinnen wie möglich weitergegeben werden.
»Ich bin zu alt, um noch einmal ein junges Mädchen anzulernen«, meuterte Bruna jedes Mal und schlug diese Ansinnen kategorisch aus. Dann schrieb Leesha eine höfliche Absage, und mittlerweile kannte sie die entsprechenden Formulierungen auswendig.
Auf diese Weise bekam Leesha oft Gelegenheit, sich mit Kurieren zu unterhalten. Und es stimmte, dass die meisten von ihnen sie begehrlich anschielten oder versuchten, sie mit Geschichten aus den Freien Städten zu beeindrucken. Einer von denen war Marick.
Außerdem fielen die Erzählungen der Kuriere bei Leesha auf fruchtbaren Boden. Die Männer mochten die Absicht haben, sich bei ihr einzuschmeicheln und irgendwann einmal zum Zuge zu kommen, aber sie wirkten auf Leesha in einer Weise, mit der die lüsternen Burschen nicht rechnen konnten. Die Bilder,
die diese Berichte in ihr aufsteigen ließen, verfolgten sie bis in ihre Träume. Sie wollte nicht nur über diese fernen Stätten hören, sondern sie mit eigenen Augen sehen. Sie wollte an den Kais von Lakton entlangschlendern, die ausgedehnten, mit magischen Siegeln geschützten Felder von Fort Rizon bewundern, oder einen Blick auf Angiers erhaschen, die Waldfestung, die ihre Fantasie beflügelte. Sie wünschte sich einen persönlichen Austausch mit den dortigen Kräutersammlerinnen und brannte darauf, deren Bücher zu lesen. Außer Bruna gab es noch andere Hüterinnen des Wissens der alten Welt, und sie könnte aus ihrem Erfahrungsschatz schöpfen, wenn sie nur den Mut aufbrächte, zu ihnen zu reisen.
Ihr Lächeln vertiefte sich, als Marick in Sichtweite kam. Selbst aus dieser Entfernung erkannte sie seinen Gang; seine Beine waren ein bisschen krumm, weil er sein Leben auf dem Pferderücken zubrachte. Der Kurier stammte aus Angiers, und mit seinen fünf Fuß und sieben Zoll war er gerade mal so groß wie Leesha; doch er wirkte drahtig und zäh, und Leesha fand, er habe tatsächlich die Augen eines Wolfes. In seinem Blick lag der Ausdruck eines Raubtieres, das nach einer Bedrohung sucht … und nach einer Beute.
»Ay, Leesha!«, rief er, seinen Speer schwenkend.
Leesha hob grüßend eine Hand. »Musst du dieses Ding wirklich am helllichten Tag mit dir herumschleppen?« Sie zeigte auf den Speer.
»Und was ist, wenn plötzlich ein Wolf auftaucht?«, erwiderte Marick grinsend. »Wie sollte ich dich da verteidigen?«
»Hier sieht man nicht viele Wölfe«, entgegnete Leesha, während er näher kam. Er hatte ziemlich langes braunes Haar und Augen, deren Farbe an die Borke von Bäumen erinnerte. Sie konnte nicht abstreiten, dass er ein gut aussehender Bursche war.
»Es könnte ja auch ein Bär sein«, beharrte Marick, als er die Hütte erreichte. »Oder ein Löwe. Es gibt viele Räuber auf der Welt«, meinte er mit einem Blick in ihren Ausschnitt.
»Dessen bin ich mir sehr wohl bewusst«, versetzte Leesha und rückte ihr Umschlagtuch so zurecht, dass es ihre Brust völlig bedeckte.
Marick lachte und stellte seine Kuriertasche auf der Veranda ab. »Umschlagtücher sind nicht mehr modern«, klärte er sie auf. »Keine Frau in Angiers oder Rizon würde noch eines tragen.«
»Wahrscheinlich ziehen sie stattdessen hochgeschlossene Kleider an, oder die Männer dort haben ein besseres Benehmen«, konterte Leesha.
»Recht hast du, ihre Kleider sind tatsächlich am Hals hochgeschlossen«, räumte Marick lachend ein und machte vor Leesha eine Verbeugung. »Ich könnte dir so ein Kleid aus Angiers mitbringen«, flüsterte er und rückte dicht an sie heran.
»Und bei welcher Gelegenheit sollte ich es tragen?«, fragte Leesha und wich zur Seite aus, ehe Marick sie in Bedrängnis bringen konnte.
»Komm mit mir nach Angiers«, schlug
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