Das Lied der Dunkelheit
folgten die Männer bald nach, oftmals,
weil ihre Gemahlinnen sie drängten, bei Leesha Hilfe zu suchen, wenn irgendein Gebrechen sie plagte. Doch die Schürze der Kräutersammlerin hielt sie samt und sonders in Schach; Leesha hatte beinahe jeden Mann im Dorf nackt gesehen, aber kein einziges Mal war sie mit einem intim geworden. Und obwohl die Frauen sie über alles lobten und ihr Geschenke schickten, gab es nicht eine einzige, der sie ihre eigenen Geheimnisse hätte anvertrauen können.
Doch trotz mancherlei Schwierigkeiten hatte sich Leesha während der vergangenen sieben Jahre glücklicher gefühlt als in den dreizehn Jahren davor. Bruna zeigte ihr eine Welt, die viel größer und interessanter war als die, auf die ihre Mutter sie vorbereitet hatte. Gewiss, sie war traurig, wenn sie einem Menschen für immer die Augen schließen musste, doch sie wurde reichlich entschädigt, wenn sie ein Kind aus dem Schoß der Mutter zog und es mit einem sanften Klaps zu seinem ersten kräftigen Schreien anregte.
Bald würde ihre Lehrzeit also vorbei sein, und dann wollte Bruna sich für immer in den Ruhestand zurückziehen. Wenn sie darüber sprach, klang es so, als erwarte sie, kurz darauf zu sterben. Die Vorstellung erschreckte Leesha in mehr als einer Hinsicht.
Bruna war ihr schützender Schild und ihr Speer zugleich, Leeshas undurchdringliches, beinahe schon magisches Siegel, das sie vor den Leuten abschirmte. Was sollte aus ihr werden, wenn es diesen Schutz einmal nicht mehr gab? Leesha verfügte nicht über dieses herrische Auftreten, mit dem Bruna sich Respekt verschaffte; es lag ihr nicht, Befehle zu schnauzen und jemanden, der ihr dumm kam oder nicht sogleich spurte, mit dem Stock zu schlagen. Obendrein befürchtete sie, ohne Bruna völlig zu vereinsamen; dann hätte sie niemanden mehr, der von Mensch zu Mensch zu ihr sprach, denn wenn die Leute sich
mit ihr unterhielten, dann sahen sie in ihr ausschließlich die Kräutersammlerin. Bruna durfte ihre Tränen sehen, wenn sie bekümmert war, und ihr konnte sie freimütig ihre Zweifel eingestehen, wenn sie sich wegen einer Behandlungsmethode nicht sicher war. Vor anderen jedoch musste sie Stärke und Zuversicht mimen, denn Unsicherheit war ebenfalls eine Form von Vertrauensbruch. Die Menschen verließen sich darauf, dass die Kräutersammlerin, die ihnen half, niemals irrte.
Und tief in ihrem Inneren hegte sie darüber hinaus noch ganz andere Befürchtungen. Mittlerweile kam ihr das Tal der Holzfäller unglaublich klein und beengt vor. Die Türen, die Bruna durch ihren Unterricht aufgestoßen hatte, ließen sich so leicht nicht wieder schließen, ihr Horizont hatte sich schlichtweg erweitert. Ihr war klar, dass sie während der vergangenen sieben Jahre eine ganze Menge gelernt hatte, doch gleichzeitig wusste sie, dass ihre Ausbildung noch längst nicht abgeschlossen war. Es gab noch so viel, das sie sich aneignen konnte. Aber ohne Bruna würde diese Reise enden.
Sie betrat das Haus und sah ihre Lehrmeisterin am Tisch sitzen. »Guten Morgen«, grüßte sie. »Ich hatte nicht damit gerechnet, dass du so früh aufstehst, sonst hätte ich dir einen Tee aufgebrüht, bevor ich in den Garten ging.« Sie stellte ihren Korb ab und trat an die Feuerstelle; das Wasser im Kessel dampfte bereits.
»Ich bin alt«, grummelte Bruna, »aber nicht so blind und verkrüppelt, dass ich mir nicht mal mehr einen Tee zubereiten könnte.«
»Natürlich nicht«, lenkte Leesha ein, ging zu Bruna und küsste sie auf die Wange. »Du bist rüstig genug, um eine Axt zu schwingen wie ein Holzfäller.« Sie lachte, als die Alte das Gesicht verzog, und suchte die Zutaten für den Haferbrei zusammen.
Im Laufe der Jahre war Brunas Ton nicht milder geworden, doch Leesha störte sich nicht länger an ihrer ruppigen Art. Die Alte konnte noch so sehr schnauzen und schimpfen, Leesha wusste, dass Bruna ihr aufrichtig zugetan war, und vergalt es ihr mit stets gleichbleibender Freundlichkeit.
»Du hast heute Morgen aber zeitig mit dem Kräutersammeln angefangen«, meinte Bruna beim Essen. »Der Gestank der Dämonen hängt ja noch in der Luft, man kann ihn förmlich riechen.«
»Das sieht dir mal wieder ähnlich«, erwiderte Leesha. »Du bist von frischen Blumen umgeben und beklagst dich immer noch über üble Gerüche.« Das Mädchen sorgte stets dafür, dass überall in der Hütte Blumensträuße verteilt waren, die ihren lieblichen Duft verströmten.
»Wechsle nicht das Thema!«, wies die Alte sie
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