Das Lied der Dunkelheit
Leesha freute sich über diese Neuerung, und bald ließ sie von Benn die zierlichen Einzelteile eines Destilliergerätes herstellen, wie sie es aus Brunas Büchern kannte. Mithilfe dieser Apparatur konnte sie die wirksamen Substanzen der Kräuter viel besser nutzen, und die Tränke und Tinkturen, die sie zusammenbraute, übertrafen alles, was es hier an Heilmitteln je gegeben hatte.
Bereits kurze Zeit nach ihrem Kennenlernen heirateten Benn und Mairy, und dann dauerte es nicht mehr lange, bis Leesha ihr erstes Kind aus dem Schoß der Mutter zog. Die beiden nächsten Schwangerschaften folgten rasch aufeinander, und Leesha liebte jedes Kind, dem sie auf die Welt half, als wäre es
ihr eigenes. Sie war zu Tränen gerührt gewesen, als man das jüngste Mädchen nach ihr benannte.
»Guten Morgen, ihr kleinen Racker«, jubelte Leesha, ging in die Hocke und ließ zu, dass Mairys Sprösslinge sich ihr ungestüm entgegenwarfen. Sie schloss sie fest in die Arme, küsste sie und steckte ihnen in Papier gewickelte Süßigkeiten zu, ehe sie wieder aufstand. Das Konfekt hatte sie selbst gemacht; noch eine nützliche Fertigkeit, die sie von Bruna gelernt hatte.
»Guten Morgen, Leesha«, grüßte Mairy mit artiger Stimme und deutete einen kleinen Knicks an. Leesha runzelte unwillig die Stirn. Sie und Mairy waren immer enge Freundinnen geblieben, aber nun, da Leesha die Schürze mit den vielen Taschen, das Abzeichen einer Heilerin, trug, betrachtete sie sie mit anderen Augen, und nichts konnte ihre neue Einstellung ändern. Das Knicksen schien ihr in Fleisch und Blut übergegangen zu sein.
Trotzdem schätzte Leesha ihre Freundschaft. Saira schlich heimlich zu Brunas Hütte und bat um Pomeranzenblättertee, aber damit endete dann auch ihre Beziehung. Nach allem, was die Frauen im Ort munkelten, mangelte es Saira nicht an Gesellschaft. Die Hälfte der Männer hatte irgendwann einmal an ihre Tür geklopft, und sie verfügte immer über mehr Geld, als sie und ihre Mutter sich durch Näharbeiten allein verdienen konnten.
In gewisser Weise verhielt sich Brianne noch schlimmer. Seit sieben Jahren hatte sie mit Leesha kein Wort mehr gesprochen, dafür zog sie bei anderen ausgiebig über sie her. Wenn sie die Hilfe einer Kräutersammlerin benötigte, wandte sie sich an Darsy, und ihre Tändeleien mit Evin hatten sehr schnell zu einer Schwangerschaft geführt. Als der Fürsorger Michel sie aufgefordert hatte, den Erzeuger des Kindes zu nennen, hatte
sie prompt Evins Namen angegeben, um den Leuten nicht allein gegenübertreten zu müssen.
Evin hatte Brianne geheiratet, während Briannes Vater ihm die Zinken einer Mistgabel in den Rücken drückte und er zu beiden Seiten von ihren Brüdern flankiert wurde; seitdem verbrachte er seine Zeit damit, Brianne und ihrem Sohn Callen das Leben so schwer wie möglich zu machen.
Brianne entpuppte sich als eine tüchtige Ehefrau und Mutter, aber das Gewicht, das sie in der Schwangerschaft zugelegt hatte, verlor sie nie wieder, und Leesha wusste aus persönlicher Erfahrung, dass Evin nicht nur begehrlich nach anderen Frauen schielte, sondern auch emsig zur Tat schritt. Wenn man dem Dorfklatsch trauen durfte, dann suchte er sich des Öfteren bei Saira Trost.
»Guten Morgen, Mairy«, erwiderte sie nun. »Hast du schon Marick kennengelernt, den Kurier?« Leesha drehte sich um, in der Absicht, ihn vorzustellen, doch dann merkte sie, dass er nicht mehr hinter ihr stand.
»Oh nein«, stöhnte sie, als sie sah, wie er sich auf der anderen Seite des Marktes mit Gared unterhielt.
Mit fünfzehn war Gared größer und kräftiger gewesen als jeder andere Mann im Ort, mit Ausnahme seines Vaters. Nun, im Alter von zweiundzwanzig Jahren, hatte er sich zu einem wahren Hünen ausgewachsen; er maß beinahe sieben Fuß, bestand nur aus harten, schwellenden Muskeln, die er sich durch seine Schufterei mit der schweren Axt erworben hatte. Es hieß, er müsse Milneser Blut in sich haben, denn kein Angieraner hatte sich je zu einem solchen Riesen entwickelt.
Die Geschichte über seine gemeine Lüge hatte sich wie ein Lauffeuer im Dorf verbreitet, und seitdem mieden ihn die Mädchen, aus Angst, mit ihm allein zu sein. Vielleicht war das der
Grund, weshalb er Leesha immer noch begehrte; aber vielleicht hätte er sie auch ohne dieses Fiasko weiterhin geliebt. Doch aus seinen vergangenen Fehlern hatte Gared nichts gelernt. Im gleichen Maße wie seine Muskeln war auch sein Ego gewachsen, und er hatte sich zu einem richtigen
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