Das Lied der Dunkelheit
einem präzisen Schwung aus dem Handgelenk seinen Hut zum Einsammeln von Münzen direkt vor die Zuschauer.
Vor Arricks Auftritten diente Rojer immer als Possenreißer, der das Publikum in Stimmung brachte. Ein paar Minuten lang verfiel er in diese Routine, schlug ein Rad nach dem anderen, erzählte Witze, unterhielt die Leute mit Zaubertricks und imitierte einflussreiche Persönlichkeiten, deren Marotten er gekonnt nachahmte. Er erntete Gelächter und Applaus. Allmählich vergrößerte sich die Menge, schwoll an auf dreißig, dann fünfzig Personen. Doch immer mehr Leute fingen an zu maulen und verlangten nach Arrick Honigstimme. Rojers Magen krampfte sich zusammen, und um Kraft zu schöpfen, berührte er seinen Talisman in der Geheimtasche.
Das Unvermeidliche möglichst lange hinauszögernd, rief er die Kinder nach vorn und erzählte ihnen die Geschichte von der Rückkehr. Er spielte die verschiedenen Rollen gut, und einige Zuschauer nickten beifällig, doch auf vielen Gesichtern malte sich Enttäuschung ab. Wurde die Geschichte normalerweise nicht von Arrick gesungen? Waren sie nicht eigens deshalb hergekommen, um seine Stimme zu hören?
»Wo bleibt Arrick?«, brüllte jemand aus einer der hinteren Reihen. Seine Nachbarn zischten ihm zu, er möge schweigen,
doch die Frage hing schwer in der Luft. Als Rojer damit fertig war, die Kinder zu unterhalten, erhob sich allgemein ein unzufriedenes Gemurmel.
»Ich bin hier, um ein Lied zu hören!«, beklagte sich derselbe Zwischenrufer, und dieses Mal fand er die Unterstützung seiner Nachbarn.
Rojer hütete sich, diesem Wunsch zu entsprechen. Er hatte noch nie eine kräftige Stimme besessen, und sie kippte, wenn er versuchte, einen Ton länger als ein paar Atemzüge zu halten. Wenn er jetzt anfinge zu singen, würde das Publikum unangenehm werden.
Er kramte in der Magischen Tasche nach anderen Möglichkeiten der Unterhaltung, wobei er die Jonglierkugeln schamhaft überging. Mit seiner verstümmelten rechten Hand konnte er die Bälle zwar recht geschickt werfen oder fangen, aber ohne den Zeigefinger, um einer Kugel den richtigen Drall zu geben und mit nur einer halben Hand, um sie wieder aufzufangen, konnte er das komplizierte Zusammenspiel beider Hände, das für eine gute Jonglage unabdingbar ist, selbst mit ausdauerndem Üben nicht meistern.
»Was ist das für ein Jongleur, der weder singen noch jonglieren kann?«, schimpfte Arrick ihn manchmal aus. Ein miserabler Jongleur, wusste Rojer.
Mit den Wurfmessern, die ebenfalls in der Tasche lagen, konnte er schon wesentlich besser umgehen; doch ohne eine spezielle Lizenz der Gilde durfte er niemanden aus dem Publikum auffordern, sich vor die Wand zu stellen, während er die Messer warf. Arrick suchte sich immer ein vollbusiges Mädchen als Assistentin aus, die nach der Vorstellung meistens in seinem Bett landete.
»Ich glaube nicht, dass er noch kommt«, mutmaßte der Zwischenrufer nun. Rojer verfluchte ihn in Gedanken.
Die ersten Zuschauer begannen, den Platz zu verlassen. Aus Mitleid warfen einige von ihnen Klats in den Hut, doch wenn Rojer nicht bald eine zündende Idee kam, würde das Geld nicht reichen, um Meister Keven zufrieden zu stellen. Sein Blick fiel auf die Fiedel, und ohne lange zu fackeln griff er danach, weil er aus dem Augenwinkel sah, dass der Kleine Platz sich langsam, aber sicher leerte. Er zog den Bogen heraus, und wie immer fügte dieser sich so bequem in seine verstümmelte Hand, als sei er eigens dafür geschaffen. Die fehlenden Finger störten überhaupt nicht.
Kaum strich er mit dem Bogen über die Saiten, erfüllte Musik den Platz. Leute, die sich bereits zum Gehen wandten, blieben stehen, um zu lauschen. Aber Rojer achtete nicht auf sie.
Viele Erinnerungen an seinen Vater hatte er nicht, aber ihm stand noch ganz deutlich das Bild vor Augen, wie Jessum in die Hände geklatscht und gelacht hatte, während Arrick fiedelte. Beim Spielen spürte Rojer die Liebe seines Vaters, so wie er die Liebe seiner Mutter fühlte, wenn er den Talisman berührte. Geborgen in der wärmenden Liebe seiner Eltern fielen die Ängste von ihm ab, und er verlor sich im vibrierenden Rausch der Musik.
Üblicherweise begleitete er mit der Fiedel lediglich Arricks Gesang, doch dieses Mal ging Rojer weit darüber hinaus und ersetzte mit seinem Spiel die Vorstellung, die Arrick Honigstimme eigentlich hätte geben müssen. Die Finger seiner unversehrten linken Hand huschten über die Saiten, und bald begannen die
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