Das Lied der Dunkelheit
Mitte des Platzes zu.
»Jetzt solltest du dir schleunigst einen Platz suchen«, riet Ragen.
Wie Rusco versprochen hatte, war direkt in der ersten Reihe ein Platz für ihn freigehalten worden, in einem Bereich, der normalerweise den kleineren Kindern vorbehalten blieb. Die anderen schielten neidisch zu ihm hinüber, und Arlen kam sich sehr wichtig vor. Es passierte nur selten, dass man ihn wegen irgendetwas beneidete.
Der Jongleur war groß gewachsen, wie alle Milneser; er trug ein Gewand aus knallbunten Tuchfetzen, die aussahen, als hätte er sie aus der Abfalltonne eines Färbers gestohlen. Sein Kinn zierte ein flusiger Spitzbart von derselben karottenroten Tönung wie sein Haupthaar; der Schnäuzer bedeckte gerade mal die Oberlippe, und die ganze Barttracht sah aus, als könnte man sie durch gründliches Waschen wegschrubben. Jeder, besonders die Frauen, bewunderte sein glänzend rotes Haar und die grünen Augen.
Während immer mehr Menschen auf den Platz strömten, tänzelte Keerin hin und her, jonglierte mit den bunten Holzkugeln, erzählte Witze und lockerte die allgemeine Stimmung auf. Als Rusco ihm dann das vereinbarte Zeichen gab, holte er seine Laute, fing an zu spielen und begann mit einer kräftigen, hohen Stimme zu singen. Die Leute klatschten den Takt zu den Liedern, die sie nicht kannten, doch jedes Mal, wenn er eines anstimmte, das auch in Tibbets Bach gesungen wurde, fielen sämtliche Zuhörer mit ein, wobei es ihnen nichts ausmachte,
wenn sie den Jongleur übertönten. Auch Arlen störte es nicht, er schmetterte die vertrauten Weisen genauso laut wie alle anderen.
Auf den musikalischen Teil folgten akrobatische Kunststücke und Zaubertricks. Zwischendurch machte Keerin ein paar Scherze über Ehemänner, welche die Frauen mit kreischendem Gelächter belohnten, während die Männer die Stirn runzelten; zum Ausgleich gab er anschließend einige Witze über Ehefrauen zum Besten, bei denen die Männer sich vor Lachen bogen und auf die Schenkel klatschten, ohne sich um die wütenden Blicke der Frauen zu kümmern.
Schließlich legte der Jongleur eine Pause ein, hob die Hände und bat um Ruhe. In der Menge machte sich Gemurmel breit, und Eltern schoben ihre Kinder nach vorn, damit sie ja nichts verpassten. Die kleine Jessi vom Weiler Torfhügel, die erst fünf war, kletterte einfach auf Arlens Schoß, um besser sehen zu können. Vor Wochen hatte Arlen ihrer Familie ein paar Welpen geschenkt, die Jephs Hunde geworfen hatten, und nun klammerte sie sich an ihn, wann immer er in ihre Nähe kam. Er hielt sie fest, als Keerin mit der Erzählung von der Rückkehr begann; seine hohe Stimme senkte sich zu einem tiefen, dröhnenden Bass, der bis zu den Zuhörern in den hintersten Reihen vordrang.
»Die Welt war nicht immer so, wie ihr sie heute seht«, erzählte der Jongleur den Kindern. »Oh nein! Es gab einmal eine Zeit, in der die Menschen mit den Dämonen in einer Art Gleichgewicht lebten. Diese frühen Jahre nennt man das Zeitalter der Unwissenheit. Weiß jemand von euch, warum es so heißt?« Er blickte die vorne sitzenden Kinder an, und mehrere hoben die Hand.
»Weil es noch keine Siegel gab?«, mutmaßte ein Mädchen, als Keerin auf sie zeigte.
»Ganz recht!«, lobte der Jongleur die Kleine und schlug einen Purzelbaum, der den Kindern Jubelschreie entlockte. »Das Zeitalter der Unwissenheit war für uns eine Epoche voller Furcht, doch damals gab es noch nicht so viele Dämonen, und sie konnten nicht alle Menschen töten. Es ging ähnlich zu wie heute - was wir tagsüber aufbauten, wurde des Nachts von den Dämonen wieder zerstört.
Während wir um unser Überleben kämpften«, fuhr Keerin fort, »passten wir uns an. Wir lernten, wie man Nahrungsmittel und das Vieh vor den Dämonen verbirgt, und wie man ihnen aus dem Weg gehen kann.« Er tat so, als blicke er in panischer Angst in die Runde, dann flitzte er los und versteckte sich mit allen Anzeichen des Entsetzens hinter einem Kind. »Wir hausten in Löchern, die wir in den Erdboden gegraben hatten, damit sie uns nicht aufspürten.«
»Wie Kaninchen?«, piepste Jessi und fing vergnügt an zu lachen.
»Genau so!«, schrie Keerin, legte seine Hände hinter die Ohren und wackelte mit den Fingern; dann hopste er auf und ab und zuckte dabei mit der Nase.
»Wir unternahmen alles Mögliche, um uns zu schützen«, erzählte er weiter, »bis wir schreiben lernten. Und schon bald merkten wir, dass es einige Schriftzeichen gab, die die Horclinge von uns
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