Das Lied der Dunkelheit
fernhalten konnten. Und was sind das für Schriftzeichen?«, fragte er, eine Hand hinter eine Ohrmuschel haltend.
»Siegel!«, brüllten sämtliche Zuschauer im Chor.
»Richtig!« Der Jongleur belohnte die Antwort mit einem Salto. »Mit Siegeln konnten wir uns vor den Dämonen schützen, und im Laufe der Zeit bekamen wir immer mehr Übung darin, sie anzuwenden. Bis jemand sogar entdeckte, dass die Siegel weit mehr vermochten, als die Dämonen lediglich abzuschrecken.
Sie konnten ihnen Schaden zufügen, sie verletzen.« Die Kinder schnappten nach Luft, und auch Arlen, der fast dieselbe Geschichte Jahr für Jahr gehört hatte, seit er sich erinnern konnte, merkte, dass er vor Spannung den Atem einsog. Was er nicht darum geben würde, ein solches Siegel zu kennen!
»Die Dämonen waren über die Entwicklung der Dinge natürlich wütend«, fuhr Keerin breit grinsend fort. »Sie waren daran gewöhnt, dass wir vor ihnen davonrannten und uns versteckten. Und als wir ihnen nun die Stirn boten und sie angriffen, wehrten sie sich. Mit aller Macht. So begannen der Erste Dämonenkrieg und die zweite Ära, das Zeitalter des Erlösers.
Der Erlöser war ein Mann, den der Schöpfer uns schickte, damit er unsere Armeen befehligte. Und mit ihm als Anführer errangen wir Siege!« Er fuchtelte mit einer Faust in der Luft herum, und die Kinder jubelten. Die Begeisterung wirkte ansteckend, und in seinem Überschwang kitzelte Arlen die kleine Jessie, die laut zu kichern anfing.
»Unsere Magie und unsere Kampftaktik verbesserten sich immer weiter«, erzählte Keerin, »die Menschen vermehrten sich und durften auf ein längeres Leben hoffen. Unsere Armeen wurden größer, auch dann noch, als sich die Anzahl der Dämonen verringerte. Es wuchs die Hoffnung, dass es uns gelingen würde, die Horclinge ein für alle Mal auszumerzen.«
An diesem Punkt legte der Jongleur eine Pause ein und verzog säuerlich das Gesicht. »Und ganz plötzlich«, hob er wieder an, »ohne Vorwarnung, hörten die Dämonen auf, uns zu belästigen. Sie kamen ganz einfach nicht mehr. Noch nie zuvor in der Geschichte der Welt hatte es eine Nacht ohne Horclinge gegeben. Nun jedoch verging eine Nacht nach der anderen, ohne dass sie sich blicken ließen, und das verblüffte uns über alle Maßen.« In gespielter Verwirrung kratzte er sich am Kopf. »Viele Leute glaubten, dass die Dämonen in den Kriegen so
große Verluste erlitten hatten, dass sie den Kampf aufgaben und sich furchtsam im Horc versteckten.« Er nahm eine kauernde Haltung an, fauchte wie eine Katze und tat so, als würde er vor Angst bibbern. Ein paar Kinder gingen auf das Spiel ein und knurrten ihn drohend an.
»Der Erlöser«, fuhr Keerin fort, »der gesehen hatte, wie die Dämonen jede Nacht unverdrossen kämpften, teilte diese Ansicht nicht. Doch als Monate verstrichen, ohne dass jemand auch nur einen Dämon zu Gesicht bekommen hatte, lösten sich seine Armeen allmählich auf.
Jahrelang triumphierten die Menschen, weil sie dachten, sie hätten die Horclinge besiegt«, erklärte Keerin. Er griff nach seiner Laute, klimperte eine flotte Melodie und tanzte herum. »Doch dann trat eine völlig neue, unerwartete Entwicklung ein. Seit eh und je waren die Menschen durch einen gemeinsamen Feind vereint gewesen, und als es diesen Gegner nicht mehr gab, begann sich der Zusammenhalt nach und nach zu lockern. Die Bruderschaften zerbröckelten, bis es keine Solidarität mehr gab. Und so kam es, dass sich die Menschen zum ersten Mal in ihrer Geschichte gegenseitig bekämpften.« Die Stimme des Jongleurs nahm einen düsteren Klang an. »Als der Krieg ausbrach, rief man von allen Seiten nach dem Erlöser und forderte ihn auf, die Heere anzuführen. Doch der verkündete: ›Ich werde nicht gegen Menschen kämpfen, solange noch ein einziger Dämon im Horc weilt!‹ Er wandte sich ab und verschwand, während Armeen ins Feld zogen und das ganze Land im Chaos versank.
Aus diesen großen Kriegen gingen mächtige Nationen hervor«, erklärte Keerin in erhebendem Ton, »die Menschheit breitete sich in alle Richtungen aus und besiedelte die ganze Welt. Das Zeitalter des Erlösers endete, und es folgte das Zeitalter der Wissenschaft.
Das Zeitalter der Wissenschaft«, dozierte der Jongleur, »kann man wahrlich als einen Höhepunkt der Menschheitsgeschichte bezeichnen. Doch während dieser Epoche begingen wir auch unseren größten Fehler. Ist jemand hier, der weiß, wovon ich spreche?« Die älteren Kinder wussten
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