Das Lied der Dunkelheit
sorgen.
In Angiers hielt ihn ohnehin nichts mehr. Jaycob war tot, und wahrscheinlich glaubte die Gilde, er sei auch nicht mehr am Leben, was vielleicht sogar das Beste war. »Wende dich ruhig an die Obrigkeit, aber sie werden dich hängen, und nicht uns«, hatte Jasin ihm gedroht. Rojer war klug genug, um zu wissen, dass Goldkehle schon dafür sorgen würde, dass er für immer den Mund hielt, sobald er erfuhr, dass er noch lebte.
Doch als er auf die vor ihnen liegende Straße blickte, wurde ihm trotzdem mulmig zumute. Die Dörfer Kricketlauf und Bauerngarten lagen nur einen Tagesritt von Angiers entfernt, aber bis man das Tal der Holzfäller erreichte, war man selbst hoch zu Ross viel länger unterwegs und musste mindestens viermal im Freien übernachten. Mehr als zwei Nächte hintereinander
hatte Rojer nie draußen kampiert, und das auch nur ein einziges Mal. Die Bilder, wie Arrick zu Tode kam, schossen ihm blitzartig durch den Kopf. Was wäre, wenn er auch noch Leesha verlöre?
»Geht es dir nicht gut?«, fragte Leesha.
»Was?« Abrupt wurde er aus seinen Gedanken gerissen.
»Deine Hände zittern.«
Er blickte auf seine Hände, die auf ihrer Taille ruhten, und sah, dass sie Recht hatte. »Es ist nichts«, würgte er hervor. »Da war nur plötzlich ein kalter Luftzug.«
»Ich habe ein schlechtes Gewissen«, seufzte Leesha, aber Rojer hörte sie kaum. Er starrte auf seine Hände und versuchte unter Aufbietung aller Willenskraft, das Zittern zu unterdrücken.
Du bist ein Schauspieler!, ermahnte er sich. Mime den Tapferen!
Er dachte an Marko Herumtreiber, den tollkühnen Forschungsreisenden in seinen Geschichten. Rojer hatte den Mann so oft beschrieben und seine Abenteuer in einer Pantomime dargestellt, dass ihm jeder Wesenszug und jede Geste in Fleisch und Blut übergegangen waren. Er straffte die Schultern, und seine Hände hörten auf zu zittern.
»Sag mir Bescheid, wenn du müde wirst«, schlug er vor. »Dann übernehme ich die Zügel.«
»Ich dachte, du seist noch nie geritten«, wandte sie ein.
»Man lernt etwas Neues, indem man es tut«, erwiderte er, Marko Herumtreiber zitierend, wenn dieser vor einer neuen Herausforderung stand.
Marko Herumtreiber hatte niemals Angst, etwas zu tun, was er noch nie zuvor gemacht hatte.
Als Rojer die Zügel hielt, kamen sie schneller voran, trotzdem erreichten sie Bauerngarten erst kurz vor der Dämmerung. Sie brachten das Pferd in einen Stall und betraten den Gasthof.
»Bist du ein Jongleur?«, erkundigte sich der Gastwirt, als er Rojers bunt gescheckte Kluft sah.
»Rojer Achtfinger«, stellte er sich vor. »Aus Angiers, und die Reise geht nach Westen.«
»Nie von dir gehört«, brummte der Mann, »aber das Zimmer ist kostenlos, wenn du eine Vorstellung gibst.«
Rojer sah fragend zu Leesha, und als sie mit den Schultern zuckte und nickte, lächelte er und holte seine Tasche mit den Jongleurutensilien aus dem Gepäck.
Bauerngarten bestand aus einer kleinen Ansammlung von Gebäuden und Häusern, allesamt durch Plankenwege miteinander verbunden, die mit Siegeln geschützt waren. Im Gegensatz zu jedem anderen Dorf, das Rojer kannte, wagten sich die Leute hier nachts nach draußen, um ungehindert - wenn auch eilig - von einem Haus zum anderen zu gelangen.
Diese Freiheit bedeutete einen vollen Schankraum, was Rojer sehr zupass kam. Seit Monaten gab er seine erste Vorstellung, aber er fand sich rasch zurecht, und schon bald unterhielt er sein lachendes und Beifall klatschendes Publikum mit Geschichten über Jak Schuppenzunge und den Tätowierten Mann.
Als er wieder an seinen Platz zurückkehrte, war Leeshas Gesicht vom Wein leicht gerötet. »Du warst großartig«, lobte sie ihn. »Aber ich hatte auch nichts anderes erwartet.«
Rojer strahlte und wollte etwas erwidern, als zwei Männer zu ihnen kamen, Bierkrüge in den Händen. Einen Krug reichten sie Rojer, den anderen Leesha.
»Nur ein Dankeschön für die Vorstellung«, erklärte der Wortführer der beiden. »Ich weiß, es ist nicht viel …«
»Es ist wunderbar, vielen Dank«, entgegnete Rojer. »Bitte, setzt euch zu uns.« Er deutete auf die leeren Stühle an ihrem Tisch, und die beiden Männer nahmen Platz.
»Wie kommt es, dass ihr durch Bauerngarten reist?«, erkundigte sich der erste Mann. Er hatte eine untersetzte Figur und einen buschigen schwarzen Bart. Sein Gefährte war größer und kräftiger und beteiligte sich nicht am Gespräch.
»Wir sind unterwegs zum Tal der Holzfäller«, antwortete
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