Das Lied der Dunkelheit
tun?«, quiekte Leesha und umklammerte mit schmerzhaftem Griff seinen Arm.
Wieder versuchte Rojer, sich Marko Herumtreiber vorzustellen, und dieses Mal gelang es ihm auf Anhieb. »Zuerst müssen wir weg von der Straße«, erklärte er. Er mimte Zuversicht, obwohl er Angst hatte, und tat so, als hätte er einen Plan, obwohl das nicht stimmte. Leesha nickte und ließ sich von ihm beim Aufstehen helfen. Mehrmals zuckte sie vor Schmerzen zusammen, und der Anblick versetzte ihm einen Stich ins Herz.
Rojer stützte Leesha, und Seite an Seite stolperten sie von der Straße fort und tauchten in den Wald ein. Der letzte matte Schein der dicht über dem Horizont stehenden Sonne wurde von dem Blätterdach verschluckt, und unter den Bäumen herrschte tiefes Dunkel; unter ihren Füßen knisterten abgefallene Zweige und trockenes Laub. Die Luft war durchtränkt mit dem Geruch verrottender Pflanzen. Rojer hasste den Wald.
Er forschte in seinen Erinnerungen nach Geschichten von Menschen, die nachts ungeschützt überlebt hatten, suchte nach nützlichen Hinweisen, die nicht frei erfunden waren, zermarterte sich den Kopf nach irgendeiner hilfreichen Idee.
Höhlen boten den besten Schutz, darin stimmten alle Erzählungen überein. Horclinge jagten am liebsten im Freien, und eine Höhle mit einer Reihe Siegel davor, und seien sie noch so simpel, gewährte mehr Sicherheit als jeder andere Unterschlupf. Rojer erinnerte sich an mindestens drei aufeinanderfolgende Siegel an seinem Zirkel. Vielleicht reichte das aus, um einen Höhleneingang abzuriegeln.
Leider wusste Rojer nicht, wo sich in dieser Gegend eine Höhle befand, und er hatte keine Ahnung, wonach er Ausschau halten sollte. Hilflos irrte er mal hierhin, mal dorthin, bis er das Plätschern eines Wasserlaufs hörte. Sofort bugsierte er Leesha in diese Richtung. Horclinge orientierten sich bei ihrer Jagd mit ihren Augen, ihrem Gehör und dem Geruchssinn. Ohne ein gesichertes Versteck sollten sie erst einmal dafür sorgen, nicht von den Dämonen aufgespürt zu werden. Vielleicht konnten sie sich am Ufer dieses Gewässers im Schlamm eingraben.
Aber als er den Ursprung der Geräusche entdeckte, entpuppte sich dieser als ein kleines, sprudelndes Rinnsal ohne nennenswertes Ufer. Rojer fischte einen glatt geschliffenen Stein aus dem Wasser, schleuderte ihn weg, und knurrte enttäuscht.
Als er sich umdrehte, sah er, wie Leesha in dem knöcheltiefen Bachlauf hockte und wieder weinte, während sie mit den hohlen Händen Wasser schöpfte und sich damit bespritzte; sie wusch ihr Gesicht, ihre Brüste, die Stelle zwischen ihren Beinen.
»Leesha, wir müssen weiter …«, drängte er und wollte nach ihrem Arm greifen. Sie schrie auf, wich vor ihm zurück und beugte sich vor, um noch mehr Wasser zu schöpfen.
»Leesha, dafür haben wir keine Zeit!«, brüllte er. Kurzerhand packte er sie und zerrte sie auf die Füße. Dann schleifte er sie in den Wald zurück, ohne die geringste Ahnung, wonach er suchen sollte.
Als sie schließlich auf eine kleine Lichtung stießen, gab er die Suche auf. Nirgendwo gab es ein Versteck, also blieb ihnen nichts anderes übrig, als einen Zirkel zu zeichnen. Er ließ Leesha los, hetzte auf die Lichtung und scharrte eine Schicht aus vermodernden Blättern zur Seite, um den weichen, feuchten Untergrund freizulegen.
Allmählich schärfte sich Leeshas verschwommener Blick, während sie Rojer dabei beobachtete, wie er fauliges Laub vom Waldboden kratzte. Sie war immer noch so schwach auf den Beinen, dass sie sich an einem Baum abstützen musste.
Noch vor wenigen Minuten hatte sie geglaubt, sie würde sich von ihren Qualen nie wieder erholen, doch die Horclinge, die bald auftauchen würden, stellten eine unmittelbare Bedrohung dar. Beinahe war sie dankbar für diese Ablenkung, denn nun durchlebte sie in Gedanken nicht immer und immer wieder, wie sie von den Männern angegriffen wurde; seit diese sich an ihr vergangen und sich dann mit der Beute getrollt hatten,
kreiste die Szene des Überfalls in ihrem Kopf. Bis Rojer sie mit seiner Warnung vor den Horclingen in die Wirklichkeit zurückgerissen hatte.
Ihre blassen Wangen waren mit Dreck verklebt, durch den sich die Spuren ihrer Tränen zogen. Sie hatte versucht, ihr zerrissenes Kleid zu glätten und einen Hauch von Würde wiederzufinden, doch die Schmerzen zwischen ihren Beinen erinnerten sie unablässig daran, dass ihr Stolz nun für immer gebrochen war.
»Es ist schon fast dunkel«, stöhnte sie. »Was
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