Das Lied der Dunkelheit
dass ich den Horclingen niemals etwas überlassen würde. Nicht einmal dann, wenn ich dadurch mein eigenes Leben retten könnte. Stattdessen gab ich ihnen alles, was mein Menschsein ausmacht.«
»Du hast ihnen nichts gegeben«, widersprach Rojer. »Den Zirkel habe ich mitgenommen.« Leeshas Hände verkrampften sich um ihre Suppenschale, aber sie sagte nichts.
Der Tätowierte Mann schüttelte den Kopf. »Aber ich habe dich erst dazu gebracht. Ich kannte deine Gefühle. Die Kerle dir zu überlassen, läuft auf dasselbe hinaus, als hätte ich sie den Horclingen präsentiert.«
»Sie hätten weiterhin die Straße unsicher gemacht«, gab Rojer zu bedenken. »Ohne sie ist die Welt besser dran.«
Der Tätowierte Mann nickte. »Das mag ja sein, trotzdem ist es keine Entschuldigung dafür, sie den Dämonen auszuliefern.
Ich hätte ihnen ebenso gut den Zirkel am Tag abnehmen können. Ich hätte sie sogar in einem offenen Kampf töten können, Mann gegen Mann.«
»Dann bist du vorhin also in die Nacht hinausgelaufen, weil du ein schlechtes Gewissen hast«, stellte Leesha fest. »Aber warum machst du überhaupt Jagd auf Horclinge? Wieso bekämpfst du sie so erbittert?«
»Vielleicht ist es dir noch nicht aufgefallen«, erwiderte der Tätowierte Mann sarkastisch, »aber die Horclinge befinden sich seit Jahrhunderten mit uns im Krieg. Was ist verkehrt daran, den Spieß einmal umzudrehen und den Kampf aufzunehmen?«
»Hältst du dich denn für den Erlöser?«, fragte Leesha.
Der Tätowierte Mann setzte eine finstere Miene auf. »Das Warten auf den Erlöser hat dazu geführt, dass die Menschen seit dreihundert Jahren in Angst und Untätigkeit verharren. Der Erlöser ist ein Mythos. Er wird niemals kommen, und es ist höchste Zeit, dass die Menschen das einsehen und endlich anfangen, sich selbst zu helfen.«
»Mythen haben ihre eigene Macht«, warf Rojer ein. »So schnell sollte man sie nicht als bloße Hirngespinste abtun.«
»Seit wann bist du gläubig?«, wunderte sich Leesha.
»Ich glaube an die Hoffnung«, erklärte Rojer. »Mein ganzes Leben lang war ich ein Jongleur, und in diesen dreiundzwanzig Sommern habe ich gelernt, dass die Geschichten, die die Menschen immer wieder hören wollen, die Geschichten, die sie nicht vergessen, eines gemeinsam haben - sie geben Hoffnung.«
»Zwanzig«, warf Leesha übergangslos ein.
»Was?«
»Du hast behauptet, du seist zwanzig Sommer alt!«
»Habe ich das?«
»Du bist sogar noch jünger, stimmt’s?«
»Nein, das ist eine gemeine Unterstellung«, rief er pikiert.
»Ich bin nicht dumm, Rojer«, erwiderte Leesha. »In den drei Monden, seit ich dich kenne, bist du einen Zoll gewachsen. Aber ein Zwanzigjähriger wächst nicht mehr. Wie alt bist du wirklich? Sechzehn?«
»Siebzehn!«, fauchte Rojer. Er schmiss seine Schüssel hin und verschüttete die restliche Suppe. »Bist du jetzt zufrieden? Du hattest Recht, als du zu Jizell gesagt hast, du seist beinahe alt genug, um meine Mutter zu sein.«
Leesha starrte ihn an. Eine scharfe Entgegnung lag ihr auf der Zunge, doch dann überlegte sie es sich anders. »Es tut mir leid«, war das Einzige, was über ihre Lippen kam.
»Und was ist mit dir, Tätowierter Mann?«, fragte Rojer. »Wirst auch du ›zu jung‹ als einen der Gründe anführen, weshalb ich nicht mit dir reisen sollte?«
»Mit siebzehn wurde ich Kurier«, erwiderte der Mann, »und ich bin schon gereist, als ich noch viel jünger war.«
»Und wie alt ist der Tätowierte Mann?«, wollte Rojer wissen.
»Der Tätowierte Mann wurde vor vier Sommern in der Krasianischen Wüste geboren«, lautete die rätselhafte Antwort.
»Und der Mann unter der Farbe?«, fragte Leesha. »Wie alt war er, als er starb?«
»Das ist unwichtig«, meinte der Tätowierte Mann. »Er war ein dummer, naiver Junge mit hochfliegenden Träumen, die ihm letzten Endes zum Verhängnis wurden.«
»Musste er deshalb sterben?«, erkundigte sich Leesha.
»Er wurde getötet. Aus genau diesem Grund.«
»Wie lautete sein Name?«, fragte sie mit ruhiger Stimme.
Der Tätowierte Mann ließ sich viel Zeit mit der Antwort. »Arlen«, sagte er schließlich. »Er hieß Arlen.«
29
Vor der Morgendämmerung
332 NR
Als der Tätowierte Mann erwachte, hatte sich der Sturm vorübergehend gelegt, aber schwere graue Wolken hingen noch am Himmel und kündigten weiteren Regen an. Mit seinen durch die eintätowierten Symbole geschärften Augen spähte er in die Höhle hinein und konnte die beiden Pferde
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