Das Lied der Dunkelheit
schnappte ich mir den Zirkel und deine Kräuter.«
»Warum?«, fragte Leesha mit brüchiger Stimme. Ihre offensichtliche Enttäuschung versetzte dem jungen Jongleur einen Stich.
»Du kennst den Grund«, antwortete er ernst.
»Warum?«, wiederholte Leesha. »Hast du es etwa für mich getan? Für meine Ehre? Sag es mir, Rojer. Sag mir, dass du meinetwegen getötet hast!«
»Sie sollten büßen«, entgegnete Rojer heiser. »Sie sollten für ihre Schandtaten bezahlen. Was sie dir angetan haben, war unverzeihlich.«
Leesha lachte schallend, doch es klang nicht fröhlich. »Denkst du, das wüsste ich nicht?«, schrie sie. »Denkst du, ich hätte mich siebenundzwanzig Jahre lang aufgespart, nur um dann von einer Bande Verbrecher geschändet zu werden?«
Eine Zeit lang lastete Schweigen über der Höhle. Dann krachte ein ohrenbetäubender Donnerschlag.
»Aufgespart …«, wiederholte Rojer.
»Jawohl, du Ausgeburt des Horc!«, kreischte Leesha und fing vor Wut an zu weinen. »Ich war noch Jungfrau! Rechtfertigt das vielleicht noch ein bisschen mehr, den Horclingen Menschen zum Fraß anzubieten?«
»Anzubieten?«, fragte der Tätowierte Mann.
Leesha stürzte sich auf ihn. »Natürlich, was denn sonst?«, brüllte sie. »Ich bin sicher, deine Freunde, die Dämonen, waren ganz begeistert von deinem kleinen Geschenk. Für sie gibt es nichts Schöneres, als Menschen zu töten. Da von uns nur noch
so wenige übrig sind, halten sie uns für einen seltenen Leckerbissen!«
Die Augen des Mannes weiteten sich, und in ihnen spiegelte sich der Glanz des Feuers. Einen so menschlichen Ausdruck hatte Leesha vorher noch nie in seinen Zügen gesehen, und der Anblick ließ sie vorübergehend ihren Zorn vergessen. Der Mann sah zutiefst erschrocken aus und rückte von ihnen ab, bis er den Höhlenausgang erreicht hatte.
In diesem Moment warf sich ein Horcling gegen das Netz, und die Höhle füllte sich mit einem gleißenden, silbernen Licht. Der Tätowierte Mann wirbelte herum und schrie den Dämon an; einen solchen Laut hatte Leesha noch nie zuvor gehört, trotzdem erkannte sie ihn. Dieser Schrei spiegelte sämtliche Qualen wider, die sie durchlitten hatte, als sie an jenem Abend auf der Straße vergewaltigt wurde.
Der Tätowierte Mann griff nach einem seiner Speere und schleuderte ihn in den Regen hinaus. Magie explodierte, als er den Dämon traf und in den Schlamm fegte.
»Ich verfluche euch!«, brüllte der Mann, riss sich die Kleidung vom Körper und rannte hinaus in den prasselnden Regen. »Ich hatte geschworen, euch nie etwas zu geben! Nicht das kleinste bisschen!« Von hinten sprang er einen Baumdämon an und presste ihn an sich. Das riesige Siegel auf seiner Brust flackerte, und trotz des strömenden Regens ging der Horcling in Flammen auf. Als die Kreatur wild um sich schlug, stieß er sie von sich.
»Kommt her und kämpft gegen mich!«, forderte der Mann die anderen Horclinge heraus und stellte sich breitbeinig in den Schlamm. Von allen Seiten flitzten Horclinge herbei, kratzend und beißend, doch der Mann kämpfte selbst wie ein Dämon, jeder Angriff prallte von ihm ab wie Herbstlaub, das vom Wind davongewirbelt wird.
Hinten in der Höhle wieherte Schattentänzer und zerrte an seinen Fesseln, begierig, an der Seite seines Herrn zu kämpfen. Rojer ging zu dem Tier und versuchte es zu beruhigen, während er immer wieder verstörte Blicke auf Leesha warf.
»Er kann nicht gegen alle kämpfen«, rief Leesha. »Nicht in diesem Morast.« Schon jetzt waren viele der eintätowierten Siegel von Schlamm bedeckt.
»Er will sterben«, erkannte sie.
»Was sollen wir tun?«, fragte Rojer mit schwankender Stimme.
»Deine Fiedel!«, kreischte Leesha. »Vertreib sie mit deiner Fiedel!«
Rojer schüttelte den Kopf. »Bei dem Sturm und dem Donner würden die Horclinge mich gar nicht hören.«
»Aber wir können nicht zulassen, dass er sich umbringt!«, schrie Leesha Rojer an, der erschrocken zurückprallte.
»Du hast Recht«, räumte er dann ein. Er hastete zu den Waffen des Tätowierten Mannes und schnappte sich einen leichten Speer und den runden Schild. Als Leesha begriff, was er vorhatte, versuchte sie, ihn von diesem Wahnsinn abzuhalten, doch ehe sie ihn erreichten konnte, verließ er die Höhle und rannte an die Seite des Tätowierten Mannes.
Ein Flammendämon spuckte eine Feuergarbe nach ihm, aber sie zischte im Regen und verfehlte ihr Ziel. Als der Horcling Rojer daraufhin ansprang, hob er den Schild, dessen Siegel die
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