Das Lied der Dunkelheit
griff nach seinem Arm, als er das Pferd nach draußen führte. »Willst du dich umbringen?«, schnauzte Jeph. »Du wirst mir gehorchen, Junge!«
Arlen riss sich los und weigerte sich, seinem Vater in die Augen zu blicken. »Ich muss Mam zu Coline bringen«, erwiderte er.
»Lebt sie noch?«, wunderte sich Jeph und starrte jählings zum Viehpferch hinüber, in dem seine Frau im Schlamm lag.
»Ja, aber nicht, weil du sie gerettet hast!«, knurrte Arlen. »Ich fahre jetzt mit ihr nach Stadtplatz.«
» Wir fahren mit ihr zu Coline«, berichtigte Jeph ihn und stürzte zu seiner Frau, um sie hochzuheben und auf den Wagen zu legen. Sie überließen es Norine, die Tiere zu versorgen und die Überreste der armen Marea zusammenzuklauben, und machten sich schleunigst auf den Weg.
Silvy war in Schweiß gebadet; ihre Verbrennungen schienen nicht schlimmer zu sein als die ihres Sohnes, doch die tiefen Furchen, die die Krallen des Flammendämons in ihren Körper gerissen hatten, bluteten immer noch, und das hässlich gerötete Fleisch war stark geschwollen.
»Arlen, ich …«, setzte Jeph an, während der Karren auf der Straße dahinrollte, und zögernd streckte er eine zitternde Hand nach seinem Jungen aus. Arlen entzog sich der Berührung, wandte den Kopf ab, und Jephs Hand zuckte zurück, als hätte er sich verbrannt.
Arlen wusste, dass sein Vater sich schämte. Es war genauso, wie Ragen gesagt hatte. Vielleicht hasste Jeph sich sogar für seine Feigheit, so wie es offenbar auch Cholie ergangen war. Trotzdem verspürte Arlen keinen Funken Mitgefühl. Seine Mutter hatte den Preis für Jephs Mutlosigkeit bezahlt.
Den Rest des Weges legten sie schweigend zurück.
Das zweigeschossige Haus in Stadtplatz, das der Schmucken Coline gehörte, war eines der größten Gebäude in Tibbets Bach und angefüllt mit Betten. In der oberen Etage wohnte Colines Familie, und im Erdgeschoss versorgte sie ständig mindestens einen Patienten, der das Krankenlager hüten musste.
Coline war eine kleinwüchsige Frau mit einer langen Nase und einem fliehenden Kinn. Sie war noch keine dreißig Sommer
alt, trotzdem hatte sie schon sechs Kinder, und vermutlich wegen der vielen Schwangerschaften war sie reichlich pummelig um die Taille. Ihre Kleidung roch immer nach verbrannten Kräutern, und zu ihren üblichen Kuren gehörte normalerweise irgendein scheußlich schmeckender Tee. Die Bewohner von Tibbets Bach machten sich über dieses Gebräu lustig, aber jeder schlürfte es dankbar, wenn er sich eine Erkältung einfing.
Die Kräutersammlerin warf einen ausgiebigen Blick auf Silvy und ordnete an, dass Arlen und sein Vater sie in ihr Haus tragen sollten. Sie stellte keine Fragen, und das war gut so, denn weder Arlen noch Jeph hätten gewusst, was sie antworten sollten. Als sie an jeder einzelnen Wunde mit einer scharfen Klinge herumschnitt und einen ekelhaften braunen Eiter herausdrückte, füllte sich die Luft mit dem Gestank von verfaultem Fleisch. Mit Wasser und zerstoßenen Kräutern säuberte und trocknete sie die Schwären, danach nähte sie sie zu. Jephs Gesicht nahm eine grünliche Färbung an, und plötzlich hielt er sich die Hand vor den Mund.
»Raus hier!«, blaffte Coline und schickte Jeph mit ausgestrecktem Zeigefinger aus dem Behandlungszimmer. Als Jeph nach draußen eilte, um sich dort zu übergeben, blickte sie Arlen an.
»Musst du auch kotzen?«, fragte sie barsch. Arlen schüttelte stumm den Kopf. Coline musterte ihn eine Weile, dann nickte sie beifällig. »Du bist tapferer als dein Vater«, meinte sie. »Hol mir den Mörser und den Stößel. Ich bringe dir bei, wie man eine Salbe gegen Verbrennungen macht.«
Ohne die Augen auch nur ein einziges Mal von ihrer Arbeit abzuwenden, erläuterte Coline dem Jungen, wie er sich in der Ansammlung von unzähligen Krügen und Beuteln, mit denen ihre Apotheke bestückt war, zurechtfinden konnte. Sie lotste
ihn zu jeder einzelnen Zutat, die sie für die Paste benötigte, und dann erteilte sie ihm Unterricht in der Herstellung der Heilsalbe. Während sie noch dabei war, die tiefen Schrammen in Silvys Brustkorb und Rücken zu vernähen, bestrich Arlen die Brandwunden seiner Mutter mit dem frisch angefertigten Balsam.
Nachdem Silvys Verletzungen versorgt waren, wandte sich die Kräutersammlerin Arlen zu und inspizierte seine Verbrennungen. Zuerst lehnte er eine Behandlung ab, doch dann fügte er sich; der Balsam wirkte, und erst als sich eine angenehme Kühle auf seinen Armen ausbreitete,
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