Das Lied der Dunkelheit
gestand er sich ein, wie stark die Verbrennungen geschmerzt hatten.
»Wird sie wieder gesund werden?«, erkundigte sich Arlen und blickte auf seine Mutter. Sie schien normal zu atmen, doch das Fleisch an den Wundrändern hatte eine abstoßende Farbe angenommen, und der Verwesungsgestank hing immer noch schwer in der Luft.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Coline. Sie war keine Frau, die ein Blatt vor den Mund nahm. »Noch nie in meinem Leben habe ich so üble Verletzungen gesehen. Normalerweise, wenn die Horclinge erst einmal jemanden in die Krallen kriegen …«
»Dann bringen sie ihn auch um«, warf Jeph ein, der in der Tür stand. »Sie hätten auch Silvy getötet, wenn Arlen nicht dazwischengesprungen wäre.« Mit gesenktem Blick betrat er den Raum. »Gestern Nacht hat der Junge mir eine Lektion erteilt, Coline«, fuhr er fort. »Er brachte mir zu Bewusstsein, dass die Angst unser ärgster Feind ist, und nicht die Horclinge.«
Jeph legte die Hände auf Arlens Schultern und sah ihm in die Augen. »Ich werde dich nicht noch einmal im Stich lassen«, gelobte er. Arlen nickte und wandte den Blick ab. Gern hätte er
seinem Vater geglaubt, aber in Gedanken sah er immer wieder das Bild vor sich, wie Jeph starr vor Furcht auf der Veranda stand.
Jeph ging zu Silvy und nahm ihre klamme Hand in die seine. Arlens Mutter war immer noch schweißnass und schlug manchmal in ihrem durch Kräuter erzwungenen Schlummer um sich. »Wird sie sterben?«, wollte Jeph wissen.
Die Kräutersammlerin blies einen langen Atemzug aus. »Ich verstehe mich gut darauf, gebrochene Knochen zu richten und Frauen bei der Geburt zu helfen. Ich kann Fieber senken und Erkältungen kurieren. Ich kann sogar Wunden heilen, die Horclinge geschlagen haben, vorausgesetzt, die Verletzung ist noch ganz frisch.« Skeptisch wiegte sie den Kopf. »Aber das hier ist ein Dämonenfieber. Ich habe ihr Kräuter gegeben, die sie schlafen lassen und die Schmerzen dämpfen, aber für eine wirksame Kur brauchst du eine bessere Kräutersammlerin, als ich es bin.«
»Wen gibt es denn sonst noch?«, erkundigte sich Jeph. »In Tibbets Bach bist du doch die Einzige.«
»Da wäre noch die Frau, bei der ich mein Handwerk gelernt habe«, erwiderte Coline. »Die alte Mey Friman. Sie wohnt am Rande des Weilers Sonnige Weide, zwei Tagesreisen von hier entfernt. Wenn es überhaupt jemanden gibt, der deiner Frau helfen kann, dann ist sie es. Aber du musst dich beeilen. Das Fieber wird sich rasend schnell ausbreiten, und wenn du zu lange zögerst, kann auch die alte Mey nichts mehr ausrichten.«
»Wie finden wir sie?«, wollte Jeph wissen.
»Ihr könnt sie gar nicht verfehlen«, behauptete Coline. »Es gibt doch nur diese eine Straße, die in die Ortschaft führt. Ihr dürft nur nicht an der Gabelung abbiegen, bevor sie durch die Wälder verläuft, sonst seid ihr wochenlang unterwegs und landet
zum Schluss in Miln. Dieser Kurier, Ragen, ist vor wenigen Stunden in Richtung Sonnige Weide aufgebrochen, aber zuvor wollte er einige Male in verschiedenen Dörfern Halt machen. Wenn ihr euch sputet, könnt ihr ihn vielleicht noch einholen. Kuriere reisen nie ohne ihre eigenen Siegel. Es wäre gut, wenn ihr ihn rechtzeitig einholt und euch ihm und dem Jongleur anschließt, denn dann könnt ihr bis zur Abenddämmerung weiterfahren, anstatt euch vorher einen Unterschlupf zu suchen. In Begleitung des Kuriers erreicht ihr die alte Mey in der Hälfte der Zeit, die ihr benötigen würdet, wenn ihr auf euch allein gestellt wäret.«
»Wir finden ihn«, schwor Jeph, »egal, um welchen Preis.« Seine Stimme bekam einen energischen Klang, und Arlen begann zu hoffen.
Eine eigenartige Sehnsucht erfüllte Arlen, als er vom hinteren Teil des Karrens aus zusah, wie sich Tibbets Bach in der Ferne verlor. Zum ersten Mal in seinem Leben unternahm er eine Reise, die länger als einen Tag dauern sollte. So weit hatte er sich noch nie von zu Hause entfernt. Und er würde eine fremde Ortschaft sehen! Noch vor einer Woche wäre er von einem solchen Abenteuer begeistert gewesen. Nun jedoch wünschte er sich nichts mehr, als dass alles wieder so würde, wie es einmal gewesen war.
Als er sich auf dem Hof seines Vaters noch sicher fühlte.
Als seine Mutter noch gesund war.
Als er noch nicht wusste, wie feige sich Jeph in der Stunde der größten Not verhalten konnte.
Coline hatte versprochen, einen ihrer Söhne zu Jephs Hof zu schicken und Norine auszurichten, dass sie wahrscheinlich länger
als eine
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