Das Lied der Dunkelheit
stundenlang rennen musste, so schnell seine Beine ihn trugen.
Einmal, vor ein paar Monaten, hätte er es um ein Haar nicht mehr geschafft. Er hatte versucht, einen Blick auf Harls älteste Tochter, Ilain, zu erhaschen. Die anderen Jungen hatten erzählt, sie hätte von allen Frauen im Dorf die größten Titten, und er wollte sich selbst überzeugen, ob diese Behauptung stimmte. Eines Tages hatte er in der Nähe des Hofs herumgelungert, und plötzlich kam Ilain weinend aus dem Haus gerannt. In ihrem Kummer sah sie wunderschön aus, und am liebsten wäre Arlen zu ihr hingelaufen und hätte sie getröstet, obwohl sie acht Sommer älter war als er. Den Mut, sich dem Mädchen zu zeigen, hatte er nicht aufgebracht, aber er hatte sie länger beobachtet als ihm guttat; und als dann die Sonne unterging, wäre ihm seine Neugier fast zum Verhängnis geworden.
Ein räudiger Köter begann zu bellen, als sie sich dem Gehöft näherten; dann trat ein junges Mädchen auf die Veranda und sah ihnen mit traurigen Augen entgegen.
»Ich denke, wir müssen hier um Obdach bitten«, meinte Jeph.
»Bis es dunkel wird, dauert es noch ein paar Stunden«, entgegnete Arlen und schüttelte ablehnend den Kopf. »Wenn wir bis dahin Ragen nicht eingeholt haben, gibt es laut Karte noch einen Bauernhof. Er liegt an der Weggabelung, an der eine Abzweigung zu den Freien Städten führt.«
Jeph spähte über Arlens Schulter auf die Karte. »Das ist ein sehr langer Weg.«
»Mam braucht dringend Hilfe. Sie kann nicht mehr lange warten«, beharrte Arlen. »Die ganze Strecke können wir heute nicht mehr zurücklegen, aber jede Stunde, die wir rausschinden, bringt sie ihrer Behandlung eine Stunde näher.«
Jeph warf einen Blick auf Silvy, die in Schweiß gebadet hinten im Karren lag, dann sah er zur bereits tief stehenden Sonne und nickte. Sie winkten dem Mädchen auf der Veranda grüßend zu, hielten das Fuhrwerk jedoch nicht an.
Während der nächsten Stunden legten sie eine ziemlich große Strecke zurück, aber sie entdeckten weder den Kurier noch ein anderes Haus. Sichtlich nervös behielt Jeph den sich orangerot färbenden Himmel im Auge.
»In nicht ganz zwei Stunden wird es stockdunkel sein«, erklärte er. »Wir müssen umkehren. Wenn wir uns beeilen, erreichen wir gerade noch rechtzeitig Harls Anwesen.«
»Dieser Bauernhof, der auf der Karte eingezeichnet ist, liegt vielleicht schon hinter der nächsten Wegbiegung«, argumentierte Arlen. »Wir werden ihn finden. Er muss bald auftauchen!«
»Das wissen wir nicht«, hielt Jeph dagegen und spuckte über die Seitenwand des Karrens. »Die Karte ist ungenau. Wir machen kehrt, so lange es noch geht. Keine Widerrede!«
Arlens Augen weiteten sich vor Verblüffung. »Dann verlieren wir einen halben Tag, nicht nur die Nacht. In der Zeit kann Mam sterben!«, schrie er.
Abermals betrachtete Jeph seine Frau, die unter den Decken, in die man sie eingehüllt hatte, stark schwitzte und in kurzen, röchelnden Atemzügen nach Luft rang. Bekümmert schaute er dann um sich, sah die länger werdenden Schatten, und unterdrückte einen Schauder. »Wenn wir im Dunkeln von den Dämonen überfallen werden, sind wir alle drei tot …«, erwiderte er in ruhigem Ton.
Arlen schüttelte energisch den Kopf, noch ehe sein Vater den Satz zu Ende gesprochen hatte; er weigerte sich nachzugeben. »Wir könnten …«, stammelte er und verhaspelte sich. »Wir könnten Siegel in den Boden ritzen«, sprudelte es schließlich aus ihm heraus. »Um den ganzen Karren herum.«
»Und wenn Wind aufkommt und Staub darüberweht?«, gab sein Vater zu bedenken. »Was dann?«
»Der andere Hof könnte schon hinter dem nächsten Hügel liegen!«, beharrte Arlen. Er wollte einfach nicht kapitulieren.
»Oder auch zwanzig Meilen weiter!«, schoss Jeph zurück. »Er könnte auch voriges Jahr abgebrannt sein. Wer weiß, was alles passiert ist, seit die Karte angefertigt wurde!«
»Meinst du etwa, dass Mam dieses Risiko nicht wert ist?«, beschuldigte Arlen seinen Vater.
»Sag du mir nicht, was deine Mutter wert ist!«, brüllte Jeph so laut, dass der Junge erschrocken zurückzuckte. »Ich habe sie mein Leben lang geliebt! Ich weiß besser als du, was sie mir bedeutet! Aber ich habe nicht vor, uns alle drei umzubringen! Sie wird die Nacht schon überstehen. Sie muss es schaffen!«
Damit zog er fest an den Leinen, hielt den Wagen an und wendete ihn. Dann knallte er das Leder gnadenlos auf Missys
Flanken, und im gestreckten Galopp preschten
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