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Das Lied der Dunkelheit

Das Lied der Dunkelheit

Titel: Das Lied der Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter V. Brett
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Woche fort sein würden; außerdem sollte der Junge ihr während ihrer Abwesenheit zur Hand gehen, die Tiere versorgen und die Siegel kontrollieren. Die Nachbarn würden ebenfalls helfen, aber Norines Kummer war noch zu frisch, um sie in den Nächten allein zu lassen.
    Die Kräutersammlerin hatte ihnen eine einfache Landkarte mitgegeben, die sorgfältig eingerollt in einer Röhre aufbewahrt wurde, damit ihr nichts zustieß. In Tibbets Bach galt Papier als Rarität und wurde nicht so ohne Weiteres weggegeben. Arlen fand die Karte faszinierend und studierte sie stundenlang, obwohl er die wenigen Worte, die die einzelnen Orte kennzeichneten, nicht entziffern konnte. Weder Arlen noch sein Vater hatten schreiben und lesen gelernt.
    Die Landkarte zeigte den Weg, der zum Dorf Sonnige Weide führte, sowie markante Plätze, die rechts und links der Straße lagen; aber die Entfernungsangaben waren mehr als vage. Der Zeichner hatte Gehöfte eingetragen, in denen man unterwegs übernachten oder eventuell um Hilfe bitten konnte, aber es ließ sich nicht feststellen, wie weit sie voneinander entfernt lagen.
    Silvy wälzte sich unruhig im Schlaf hin und her; ihre Haare und ihre Kleidung waren von Schweiß durchtränkt. Manchmal murmelte sie etwas vor sich hin oder schrie auf, doch ihre Worte ergaben keinen Sinn. Arlen tupfte ihr das Gesicht mit einem feuchten Lappen ab und gab ihr den bitteren Tee zu trinken, den die Kräutersammlerin ihnen mitgegeben hatte. Gewissenhaft befolgte er jede ihrer Anweisungen, doch seiner Mutter schien es immer schlechter zu gehen.
    Am späten Nachmittag näherten sie sich dem Haus von Harl Gerber, einem Bauern, der fast schon außerhalb der Gemeinde Tibbets Bach wohnte. Harls Hof lag nur ein paar Wegstunden von den Holzfällerhütten entfernt, doch ehe Arlen und sein
Vater hatten aufbrechen können, war der Nachmittag weit vorgerückt.
    Arlen erinnerte sich, dass er Harl und seinen drei Töchtern jedes Jahr beim Fest zur Sommersonnenwende begegnet war, bis die Familie vor zwei Jahren plötzlich ihre Besuche einstellte, weil die Horclinge Harls Frau getötet hatten. Durch diese Tragödie war Harl zum Einsiedler geworden, und auch seine Töchter zogen sich von allen Geselligkeiten zurück. Selbst der Überfall auf den Weiler der Holzfäller hatte sie nicht aus ihrer selbstgewählten Einsamkeit gelockt.
    Drei Viertel der Äcker und Felder, die zu Harl Gerbers Landwirtschaft gehörten, waren schwarz versengt und lagen völlig brach; lediglich den Bereich direkt um das Haus hatte die Familie bestellt und durch Siegelpfosten geschützt. Auf dem schlammigen Hof stand eine magere Milchkuh und käute apathisch ihr Futter wieder, und auch die Ziege, die neben dem Hühnerstall angebunden war, machte einen halb verhungerten Eindruck; unter dem stumpfen, struppigen Fell stach jede Rippe deutlich hervor.
    Das eingeschossige Haus bestand aus aufeinandergeschichteten, durch Schlamm und Ton zusammengehaltenen Steinen. Die größeren Gesteinsbrocken waren mit verblichenen Siegeln bemalt. Arlen fand, die Zeichen waren schludrig ausgeführt, aber anscheinend hatten sie bis jetzt ihren Zweck erfüllt.
    Das Dach war uneben, wies regelrechte Buckel auf, und kurze, dicke Siegelpfosten durchstießen die verrottenden Binsen. An einer Seite des Hauses schloss sich eine kleine Scheune an; auch hier ein Bild der Verwahrlosung. Die Fenster waren mit Brettern vernagelt, und die Tür hing halb aus den Angeln. Die große Scheune auf der gegenüberliegenden Hofseite wirkte noch baufälliger; die Siegel mochten vielleicht noch halten,
doch der ganze Schuppen sah aus, als könne er jeden Augenblick einstürzen.
    »Es ist das erste Mal, dass ich den Hof der Gerbers sehe«, erklärte Jeph. »Ich war vorher nie hier.«
    »Ich auch nicht«, log Arlen. Außer den Kurieren hatten nur wenige Leute einen Grund, weiter als bis zu den Holzfällerhütten zu gehen. Die Straße mochte ja weiter führen, aber kaum jemanden reizte es, zu erfahren, was hinter dem Weiler lag. Jeder, der in dieser abgeschiedenen Gegend hauste, galt bei den übrigen Bewohnern von Tibbets Bach ohnehin als suspekt und war ein steter Quell der abenteuerlichsten Spekulationen. Mehr als einmal hatte Arlen sich davongestohlen, um sich mit eigenen Augen den Hof des Verrückten Harl anzuschauen. Aber noch weiter als bis zu diesem Haus hatte auch er sich nicht vorgewagt, denn wenn er nach diesen Ausflügen vor Einbruch der Dunkelheit daheim sein wollte, bedeutete das, dass er

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