Das Lied der Dunkelheit
Flüssigkeit wieder aus den Mundwinkeln herauslief. Die Alte fuhr fort zu zucken und zu husten, doch allmählich schien der Sud seine Wirkung
zu entfalten. Als Bruna sich dann endlich beruhigt hatte und nicht mehr unter den Hustenanfällen bebte, fing Leesha vor Erleichterung an zu schluchzen.
»Leesha!«, rief jemand. Sie blickte in die entsprechende Richtung und sah ihre Mutter, die auf sie zurannte, gefolgt von einer Gruppe Dörfler.
»Was hast du schon wieder angestellt, du dummes Mädchen?«, schrie Elona. Sie erreichte Leesha, ehe die anderen aufschließen konnten, und fauchte: »Es ist schon schlimm genug, dass ich nur eine nutzlose Tochter habe und keinen Sohn, um das Feuer zu bekämpfen, und jetzt hast du auch noch diese alte Vettel umgebracht!« Sie holte aus, um ihrer Tochter eine Ohrfeige zu verpassen, aber Bruna kam ihr zuvor. Überraschend flink hob sie ihren dürren Arm und umklammerte mit ihren skelettartigen Fingern Elonas Handgelenk.
»Die alte Vettel lebt noch, und das hat sie nur diesem Mädel zu verdanken, du dämliches Frauenzimmer!«, krächzte Bruna. Elona wurde blass und prallte zurück, als habe sich Bruna vor ihren Augen in einen Horcling verwandelt. Innerlich triumphierte Leesha.
Unterdessen hatten sich die übrigen Dorfbewohner um sie geschart und wollten wissen, was passiert war.
»Meine Tochter hat Bruna das Leben gerettet!«, verkündete Elona, ehe Leesha oder Bruna den Mund auftun konnten.
Der Fürsorger Michel hielt seinen mit Schutzzeichen versehenen Kanon in die Höhe, damit alle das Heilige Buch sehen konnten, während man die Toten auf die Trümmer des letzten brennenden Hauses warf. Mit gesenkten Häuptern, die Hüte
und Mützen in den Händen, standen die Dörfler davor. Jona schleuderte Weihrauch in die Flammen, und dessen würziges Aroma mischte sich in den beißenden Gestank, der die Luft verpestete.
»Einmal wird es geschehen, dass der Erlöser in Erscheinung tritt, um den Fluch der Dämonen von uns zu nehmen. Doch bis es so weit ist, sollte ein jeder sich daran erinnern, dass es die Sünden der Menschen waren, die diese Heimsuchung über uns brachten!«, brüllte Michel. »Schuld an dieser Geißel sind all diejenigen, die die Ehe brechen und Unzucht treiben! Die lügen, stehlen und Wucherzinsen nehmen!«
»Und die ihre Arschbacken zu fest zusammenkneifen«, murmelte Elona. Jemand kicherte.
»Wer diese Welt verlässt, der wird gerichtet werden«, fuhr Michel fort, »und alle, die dem Schöpfer dienten und ein ihm wohlgefälliges Leben führten, werden im Himmel mit ihm vereint sein. Diejenigen hingegen, die sein Vertrauen missbraucht, der Genusssucht oder der Fleischeslust gefrönt haben, werden bis in alle Ewigkeit im Horc brennen!« Er schloss das Buch, und schweigend verneigten sich die versammelten Dörfler.
»Obwohl es sich geziemt, um die Verstorbenen zu trauern«, legte Michel nach, »dürfen wir nicht all diejenigen vergessen, die der Schöpfer nicht zu sich genommen hat. Lasst uns Fässer anstechen und auf die Toten trinken. Lasst uns Geschichten über die erzählen, die wir so sehr geliebt haben, und lasst uns lachen, denn das Leben ist kostbar und darf nicht verschwendet werden. Weinen können wir, wenn wir heute Nacht hinter unseren Siegeln sitzen.«
»So ist er nun mal, unser Fürsorger«, zischte Elona. »Jeder Vorwand ist ihm recht, um ein Fass anzustechen.«
»Nun hab dich doch nicht so, mein Schatz«, wandte Erny ein und tätschelte ihre Hand. »Er meint es nur gut.«
»Der Feigling verteidigt den Säufer, wie kann es anders sein«, knurrte Elona und entzog ihm ihre Hand. »Steave stürzt sich in brennende Häuser, während mein Ehemann gemeinsam mit den Frauen wehklagt.«
»Ich stand in der Eimerkette«, protestierte Erny. Er und Steave waren Rivalen gewesen, als beide Elona den Hof machten. Und hinter vorgehaltener Hand tuschelte man, als sie dann Erny den Vorzug gab, habe nicht ihr Herz gesprochen, sondern ihre Geldgier.
»Ja, wie eine Frau«, pflichtete Elona ihm bei und fasste den muskelbepackten Steave ins Auge, der sich in der Menge befand.
Es war immer das gleiche Lied. Leesha wünschte sich, sie könnte ihre Ohren vor diesen Sticheleien verschließen. Sie wünschte sich, die Horclinge hätten ihre Mutter getötet anstelle der sieben braven Leute, die den Dämonen zum Opfer gefallen waren. Sie wünschte sich, ihr Vater würde wenigstens ein einziges Mal der Mutter die Stirn bieten; nicht einmal, um seine Tochter zu schützen,
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