Das Lied der Dunkelheit
dann könnten Gared und ich heiraten, und als seine Gemahlin dürfte ich ihm all seine Wünsche erfüllen.«
»Das kannst du wohl nicht abwarten, was?«, meinte Bruna mit listigem Grinsen. »Nun, ich gebe zu, dass es Spaß macht. Männer sind nicht nur dazu da, um Bäume zu fällen und schwere Lasten zu schleppen. Sie können einer Frau schon mancherlei Wonnen bereiten.«
»Warum dauert es bei mir eigentlich so lange?«, fragte Leesha. »Saira und Mairy fanden schon Blutflecken auf ihren Bettlaken, da waren sie kaum zwölf Sommer alt, und ich werde
demnächst dreizehn! Was könnte nur mit mir los sein? Stimmt was nicht mit mir?«
»Mit dir stimmt alles, Kind«, erwiderte Bruna. »Jedes Mädchen beginnt dann zu bluten, wenn ihr Körper die nötige Reife erreicht hat. Es ist bei allen unterschiedlich. Vielleicht musst du noch ein ganzes Jahr auf die erste Blutung warten, möglicherweise noch länger.«
»Ein ganzes Jahr!«, rief Leesha.
»Hab es nicht so eilig, deine Kindheit hinter dir zu lassen, Mädchen«, warnte Bruna. »Du wirst sie vermissen, wenn du erst einmal erwachsen bist. Die Welt besteht nicht nur daraus, unter einem Mann zu liegen und sich von ihm schwängern zu lassen.«
»Aber was könnte es denn Wichtigeres geben?«
Bruna deutete auf ihr Regal. »Nimm ein Buch«, schlug sie vor. »Such dir irgendeines aus. Bring es mir, und ich werde dir zeigen, was die Welt sonst noch zu bieten hat.«
5
Ein volles Haus
319 NR
L eesha wurde mit einem Ruck wach, als Brunas alter Hahn im Morgengrauen krähte. Sie rieb sich das Gesicht und fühlte den Abdruck, den das Buch auf ihrer Wange hinterlassen hatte. Gared und Bruna schliefen noch tief und fest. Die Kräutersammlerin war früh eingeschlummert, doch trotz ihrer Müdigkeit hatte Leesha bis spät in die Nacht hinein gelesen. Sie hatte angenommen, eine Kräutersammlerin würde sich hauptsächlich mit dem Heilen von Krankheiten beschäftigen, gebrochene Knochen richten und Geburtshilfe leisten, doch diese Tätigkeiten machten nur einen kleinen Teil ihres Berufes aus. Kräutersammlerinnen studierten die gesamte Natur und forschten nach Wegen, wie sie die mannigfachen Gaben des Schöpfers zum Wohle Seiner Kinder nutzen konnten.
Leesha nahm das Band, das ihr schwarzes Haar zusammenhielt, und legte es auf die Buchseite; dann schloss sie das Werk so andächtig, wie sie den Heiligen Kanon zuzuklappen pflegte. Sie stand auf, streckte sich, legte neues Holz auf das Feuer und schürte es, bis die Flammen hochzüngelten. Nachdem sie den Wasserkessel aufgesetzt hatte, ging sie zu Gared und schüttelte ihn, um ihn zu wecken.
»Aufwachen, du Langschläfer«, flüsterte sie; sie dämpfte die Stimme, um Bruna nicht zu stören. Gared gab nur ein mattes Stöhnen von sich. Was immer Bruna ihm mit dem Tee eingeflößt hatte, besaß eine starke Wirkung. Sie rüttelte ihn heftiger; daraufhin schlug er mit der Hand nach ihr, ohne jedoch die Augen zu öffnen.
»Steh auf, oder du kriegst kein Frühstück«, lachte Leesha und stieß ihn mit dem Fuß an.
Gared ächzte abermals, und mühsam öffnete er die Augen einen Spalt breit. Als Leesha nach dem zweiten Tritt ihren Fuß zurückziehen wollte, packte er ihr Bein und zog sie an sich; quiekend purzelte sie auf ihn.
Er wälzte sich über sie und umschlang sie mit seinen kräftigen Armen. Kichernd ließ sie zu, dass er sie küsste.
»Hör auf damit«, protestierte sie, sich halbherzig gegen seine Zärtlichkeiten wehrend. »Du wirst noch Bruna aufwecken!«
»Na und?«, wiegelte Gared ab. »Die alte Hexe ist hundert Sommer alt und blind wie eine Fledermaus.«
»Aber dafür hört die alte Hexe umso besser«, schnarrte Bruna und öffnete eines ihrer milchig weißen Augen.
Gared stieß einen Schrei aus, sprang auf die Füße und flüchtete sich in die hinterste Ecke der Kammer, so weit weg wie möglich von Leesha und Bruna.
»In meinem Haus behältst du deine Finger gefälligst bei dir, mein Junge, oder ich braue dir einen Trunk, dass du ein ganzes Jahr lang keinen steifen Schwanz mehr kriegst«, drohte Bruna. Leesha sah, wie Gared blass wurde, und sie biss sich auf die Lippe, um nicht laut loszulachen. Aus irgendeinem Grund flößte Bruna ihr keine Furcht mehr ein, aber sie genoss es, zu beobachten, wie die alte Frau alle anderen einschüchterte.
»Haben wir uns verstanden?«, fragte Bruna.
»Ja, es soll nicht wieder vorkommen«, stammelte Gared.
»Schön«, erwiderte Bruna. »Und jetzt streng deine starken Arme
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