Das Lied der Dunkelheit
und winkte das Mädchen zu sich. Sie griff nach einem der Holzstäbchen und klemmte es gegen ihren verformten, spröden Fingernagel. Dann schnippte sie mit dem Daumen, und am Ende des Stäbchens flackerte eine Flamme auf. Vor Staunen bekam Leesha große Augen.
»Eine Kräutersammlerin versteht nicht nur etwas von Pflanzen, Mädchen«, kommentierte Bruna und hielt die Flamme an eine dünne Wachskerze, ehe das Zündholz abbrannte. Sie zündete eine Lampe an und gab die Kerze an Leesha weiter. Dann hielt sie die Lampe ein Stück weit von sich entfernt, sodass der flackernde Lichtschein auf ein staubiges, mit Büchern gefülltes Regal fiel.
»Grundgütiger Tag!«, rief Leesha. »Du besitzt ja mehr Bücher als der Fürsorger Michel!«
»Aber diese Bücher enthalten keine einfältigen Geschichten, die von den Heiligen Männern zensiert worden sind, Mädchen. Kräutersammlerinnen hüten einen Teil des Wissens aus der alten Welt, ihnen sind noch Kenntnisse zugänglich, die aus der Zeit vor der Rückkehr stammen, als die Dämonen die großen Bibliotheken verbrannten.«
»Du meinst die Wissenschaften?«, hakte Leesha nach. »War es nicht gerade diese dreiste Selbstüberschätzung, die den Fluch über uns brachte?«
»Das sind Michels Worte«, brummte die Alte. »Wenn ich geahnt hätte, dass dieser Bengel sich zu einem derart aufgeblasenen Wicht entwickeln würde, hätte ich ihn im Schoß seiner Mutter gelassen. Beim ersten Mal wurden die Horclinge sowohl durch die Wissenschaft als auch durch Magie vertrieben.
Die Sagen erzählen von bedeutenden Kräutersammlerinnen, die tödliche Wunden heilten, die es verstanden, Kräuter und Mineralien zu mischen, denen die Dämonen nichts entgegenzusetzen hatten. Durch Feuer und Gift vernichtete man damals ganze Heerscharen von Horclingen.«
Leesha lag schon die nächste Frage auf der Zunge, als Gared zurückkam. Bruna bedeutete dem Mädchen, an den Kamin zu gehen; sie entfachte das Feuer und setzte den Kessel darauf. Als das Wasser zu sieden begann, griff Bruna in ihr Gewand mit den vielen Taschen, streute ihre spezielle Kräutermischung in ihren eigenen Becher und Teeblätter in Gareds und Leeshas Trinkgefäße. Ihre Hände bewegten sich unglaublich flink, trotzdem bemerkte das Mädchen, dass die Alte irgendeinen Zusatz in Gareds Becher gab. Gared trank sein Gebräu gierig aus, und es dauerte nicht lange, bis er anfing, sich mit beiden Händen das Gesicht zu reiben. Im nächsten Moment kippte er vornüber und war fest eingeschlafen.
»Du hast ihm etwas in seinen Tee getan«, warf Leesha der Alten vor.
Bruna entfuhr ein meckerndes Lachen. »Das Harz von Bitterkraut und Himmelsblütenpollen«, erwiderte sie. »Beides für sich allein kann schon mannigfaltige Wirkungen entfalten, doch wenn man diese Ingredienzien miteinander vermischt, genügt eine winzige Prise, um einen Bullen zu betäuben.«
»Aber warum hast du das getan?«, wunderte sich Leesha.
Bruna schmunzelte, doch Leesha grauste vor diesem Lächeln. »Um Sitte und Anstand zu wahren, wenn man so will. Egal, ob ihr versprochen seid oder nicht, aber einen Jungen von fünfzehn Sommern kann man die Nacht über nicht mit einem jungen Mädchen allein lassen.«
»Warum durfte er dann überhaupt mitkommen? Du hättest es doch ablehnen können«, widersprach Leesha.
Bruna schüttelte den Kopf. »Damals warnte ich deinen Vater, er solle diese Schlampe nicht heiraten, aber sie wackelte mit ihren Brüsten vor ihm herum, und das hat ihm den Verstand geraubt.« Sie seufzte. »So betrunken wie die beiden sind, werden Steave und deine Mutter es heute Nacht miteinander treiben, und es wird sie nicht kümmern, wer gerade mit ihnen im Haus ist«, behauptete sie. »Doch es wäre nicht richtig, wenn Gared das Gestöhne und das Gerammel hört. Jungen in seinem Alter sind auch ohne diese Anreize schon geil genug.«
Leesha traten beinahe die Augen aus dem Kopf. »Meine Mutter würde niemals …!«
»Sprich diesen Satz lieber nicht zu Ende, Mädchen«, fiel Bruna ihr ins Wort. »Der Schöpfer verdammt Menschen, die lügen!«
Leesha sackte in sich zusammen. Sie kannte Elona, und wusste, was ihr zuzutrauen war. »Aber Gared ist nicht so, wie du anscheinend denkst«, protestierte sie.
Bruna schnaubte durch die Nase. »Erzähl das mal einer Hebamme, die seit einer halben Ewigkeit ein Dorf betreut«, spottete sie. »Ich weiß, wovon ich spreche.«
»Das Ganze wäre kein Thema, wenn ich schon zur Frau erblüht wäre«, wandte Leesha ein. »Denn
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