Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
wunderschönes Pferd brutal hingerichtet.
Durch das Fenster sieht Antonina Olga, die in dem großen Blumengarten die letzten der widerstandsfähigen bronzefarbenen Chrysanthemen und orange Gerberas abschneidet. Olga hat keine Familie, keinen Ort, an den sie zurückgehen könnte. Sie ist darauf angewiesen, dass Antonina sie im Alter unterstützt.
Wie viele Dienstboten werden bleiben? Wie viele sind von ihr abhängig? Andererseits kann sie Angelkow ohne deren Mithilfe nicht weiterbetreiben. Wie soll sie das prächtige Gutshaus instand halten, den Obstgarten, die Gemüse- und Blumengärten und das Treibhaus voller exotischer Pflanzen betreiben und sich um die Kornspeicher, Scheunen und Rinderställe kümmern? Sie braucht dringend Geld. Auch wenn eine Besprechung mit dem Rechtsanwalt über die finanzielle Situation des Guts das Letzte ist, wonach ihr heute der Sinn steht, hat sie keine andere Wahl. Selbst an einem normalen Tag wäre dieses Treffen anstrengend genug. Nach allem, was in den letzten zwei Tagen geschehen ist … Wieder ruft sie sich in Erinnerung, wie undurchdringlich Grischas Miene war, als er neben ihr im Stall stand, und dieser Gedanke lässt sie Tinka auf den Boden setzen, zu ihrem Kleiderschrank gehen und den Wodka hervorholen.
Auf dem Rückweg zum Fenster bemerkt sie Blutspuren auf dem hellen Teppich. Sie muss sich ihre Fußsohle aufgeschnitten haben, an einem Holzsplitter im Stall oder einem scharfen Stein im Hof. Beim Anblick der rötlichen Streifen sieht sie im Geiste wieder die Blutflecken, die Konstantins blutende Hand auf dem grünen Seidensofa im Salon hinterließ.
Sie hebt die Flasche an die Lippen. Als sie den Geschmack des Wodkas auf der Zunge spürt, muss sie daran denken, wie sie mit Grischa in der Datscha anstieß, wie er das Glas an die Lippen hielt. Und wie sich seine Lippen auf ihren anfühlten.
Sie bedeckt sich mit der Hand den Mund und schluckt die brennende Flüssigkeit hinunter. Sie ist immer noch eine verheiratete Frau. Sie stellt die Flasche zurück und beschließt, nach Konstantin zu sehen. Sein rasselnder Atem durchschneidet die Stille in seinem Zimmer.
» Lass mich bitte wissen, wenn der Doktor wiederkommt « , sagt sie zu Pawel und tritt dann in den Flur hinaus. » Lilja! « , ruft sie, aber die erscheint nicht. Sie ruft wieder nach ihr, und nach einer Weile kommt endlich ein junges Mädchen aus einem anderen Schlafzimmer, mit einem Lappen und einem Eimer in den Händen. » Nuscha « , sagt Antonina, » geh Lilja suchen und sag ihr, sie soll in mein Zimmer kommen. «
Das Mädchen duckt den Kopf und huscht die Treppe hinab.
Ein paar Minuten später erscheint Lilja. » Wo warst du? « , fragt Antonina. » Ich habe ein paar Mal nach dir gerufen. Bring mir bitte warmes Wasser, damit ich mir die Füße waschen kann. Aber … stimmt etwas nicht, Lilja? «
» Das Pferd. Ich hab es gesehen. «
» Wer tut so etwas Grausames? «
Lilja antwortet nicht. Sie steht einfach da und ringt die Hände.
» Schmerzt es dich so sehr? « , fragt Antonina. Sie hätte nicht gedacht, dass Lilja so viel Mitleid gegenüber einem toten Tier zeigen würde. Lilja hat sich noch nie für Tiere interessiert, abgesehen von Tinka und dem kleinen Welpen, den sie als junges Mädchen besaß.
Lilja sagt immer noch nichts, steht mit zusammengepressten Händen und schüttelt den Kopf.
Plötzlich fällt Antonina etwas ein. Nein, das kann nicht sein, denkt sie, während sie erneut das Holzbrett mit der blutigen Warnung darauf ansieht.
Lilja hat es im Schreiben nie über ein rudimentäres Gekritzel hinausgebracht. Sie hat den Buchstaben h immer spiegelverkehrt gemalt, wenn sie einen Psalm abschreiben sollte. Gleich, wie oft Antonina sie auf ihren Fehler hinwies, Lilja fuhr fort, den Buchstaben falsch herum zu schreiben.
Lilja dreht sich um und geht hinaus, um warmes Wasser zu holen, und Antonina nimmt erneut das splittrige Brett in die Hand. Während sie die unbeholfen geschriebenen Worte betrachtet, kommt sie zu dem Schluss, dass es nicht Liljas Handschrift ist. Dafür gibt es zu viele Fehler. Aber dennoch, der Buchstabe h beunruhigt Antonina – nur ein Buchstabe, und doch geht er ihr nicht mehr aus dem Kopf.
Sie ruft sich Ljoschas Gesicht in Erinnerung: Er wirkte nachdenklich und ziemlich mitgenommen. Hat Lilja ihrem Bruder Lesen und Schreiben beigebracht? Bitte, lass es nicht Ljoscha sein, betet sie inständig.
Nicht Ljoscha.
NEUNUNDZWANZIG
E s hört sich nach einer beginnenden Lungenentzündung
Weitere Kostenlose Bücher