Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
schon seit Längerem nicht mehr in Sankt Petersburg gewesen. Seit … seit mehr als einem Jahr. Ja, genau, kurz bevor die Aufhebung der Leibeigenschaft verkündet wurde. « Sie möchte gern von ihrem Wein trinken, aber Walentin steht vor ihrem Glas.
» Ich glaube, dass es Ihnen sehr verändert vorkommen würde « , fährt er fort. » Es ist alles im Wandel begriffen. Die Russische Musikgesellschaft, die vor wenigen Jahren gegründet wurde, hat sich auf die Fahnen geschrieben, das musikalische Niveau in unserem Land zu heben und jungen Menschen eine musikalische Ausbildung zu ermöglichen. « Er hält inne, aber als sie nichts sagt, spricht er weiter. » Die Musikschüler könnten unterschiedlicher nicht sein – von Beamten über Kaufleute bis zu Studenten –, sogar junge Frauen, die sich keine Privatstunden leisten können, besuchen die Kurse. Wie Sie sehen, gibt es also wunderbare neue Möglichkeiten und Gelegenheiten auch für Frauen. «
Antonina späht über seine Schulter hinweg zu ihrem halbvollen Glas. » Das … das war mir gar nicht klar. Ich war in letzter Zeit völlig von meinen eigenen Angelegenheiten in Anspruch genommen. Verzeihen Sie, Herr Kropotkin, aber ich habe völlig das Zeitgefühl verloren. « Sie ringt um Fassung, spürt, dass sie zu viel getrunken hat. » Es wird eine kalte Nacht, und Sie werden frieren beim Nachhausereiten. « Sie deutet auf die Tür.
» Die Bakanews waren so freundlich, mir eine Kutsche samt Kutscher zur Verfügung zu stellen « , sagt er. » Die Kälte wird mir also nichts anhaben können. Aber natürlich … wenn Sie es vorziehen, dass ich gleich aufbreche … « Er legt ihr die Hand auf den Arm.
Obwohl sie beschwipst ist, spürt Antonina Scham in sich aufsteigen. Indem sie sich gerade über ihr müßiges, extravagantes Leben beschwert hat, hat sie ihm vermutlich ein wenig schmeichelhaftes, vielleicht sogar hässliches Bild von ihrer Persönlichkeit vermittelt. Sie spürt die Wärme seiner Hand und blickt auf die Goldbronzeuhr auf dem Kaminsims.
» Es ist ja noch nicht spät. Kann ich Ihnen Käse oder ein Dessert anbieten? «
» Nein, danke. « Walentins Hand ruht noch immer auf ihrem Arm. » Ich habe mehr als genug gegessen. « Er legt die andere Hand auf ihre Taille.
» Sollen wir in den Salon gehen? « Sie entzieht sich ihm, nimmt ihr Weinglas und trinkt den Rest Burgunder aus. » Ich habe Lilja gebeten, dafür zu sorgen, dass die Öfen und das Kaminfeuer nicht ausgehen; es wird also warm genug sein. «
» Ja « , sagt Walentin, » gern. «
Im Salon öffnet Antonina den Vitrinenschrank mit den Getränken. Sie schenkt zwei Gläser Wodka ein und hält Walentin eines hin.
» Nein, danke, Gräfin. «
» Sie stoßen nicht mit mir an? Sie wollen der einzige Mann in Russland sein, der ein Glas Wodka ablehnt? « Sie nimmt ihr Glas und geht langsam und schwankend auf ihn zu.
Walentin fasst sie erneut am Arm, diesmal jedoch, um sie zu stützen. » Tut mir leid, aber ich werde Ihnen gleich etwas vorspielen – falls Sie möchten –, und mit einem klaren Kopf spiele ich besser. «
» Nicht einmal ein Glas? «
Er schüttelt lächelnd den Kopf.
» Erzählen Sie mir von Ihrer Kindheit « , sagt sie, um die verkrampfte Stimmung, die sie auch mit dem Zimmerwechsel nicht abstreifen konnten, ein wenig zu lockern.
Walentin blickt zum Fenster und räuspert sich.
» Wenn Sie nicht wollen, dann … «
» Wenn Sie es wünschen, erzähle ich Ihnen natürlich gern davon. Aber würde es Ihnen große Umstände bereiten, wenn ich Sie um eine Tasse Tee bäte? «
Sie ruft nach Pawel, der draußen gewartet hat, und bittet ihn, Tee zu bringen. » Setzen wir uns doch an den Kamin, bis der Tee kommt. « Als sie in einem der tiefen Samtsessel Platz genommen und an ihrem Wodka genippt hat, setzt er sich ihr gegenüber in den Sessel.
» Ich wurde von einem angesehenen Dirigenten ausgebildet, einem Mann namens Desjatnikow « , beginnt er ohne Vorrede zu erzählen. » An meine Kindheit, bevor dieser Dirigent mich bei sich aufnahm, habe ich kaum noch Erinnerungen. « Sein Bericht hört sich an, als würde er vom Blatt ablesen. Antonina vermutet, dass er die Geschichte schon viele Male irgendwelchen Frauen erzählen musste; Männer erzählten einander wohl kaum von ihrer Kindheit, zumindest nicht in diesem Plauderton. » Ich weiß nur, dass ich noch sehr klein war, als ich von meiner Familie weggebracht wurde. Deswegen wird mein wahres Alter auch immer ein Geheimnis bleiben. « Er
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