Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
lächelt. » Jedenfalls war ich noch so klein – und so verängstigt und durcheinander –, dass ich die Zeit davor völlig vergaß. « Er blickt in die Flammen. » Erst später, als weitere Jungen hinzukamen, wurde mir klar, dass man uns neue Namen gab. Davor hieß ich also anders, aber auch meinen richtigen Namen habe ich vergessen. «
Einen Moment herrscht Schweigen, dann fragt Antonina: » War es sehr schlimm für Sie? Als man Sie Ihrer Familie wegnahm? Ich denke an … ich mache mir solche Sorgen um meinen Sohn. «
» Gräfin, damals … «
Sie unterbricht ihn. » Nennen Sie mich bitte Antonina « , sagt sie. Es fühlt sich merkwürdig an, mit Gräfin angesprochen zu werden, während Walentin ihr die intime Geschichte seiner Kindheit erzählt.
» Wie Sie wünschen, Antonina. « Wieder lächelt er, und sofort ist die Atmosphäre zwischen ihnen entspannter.
Ihr Glas ist leer. Sie denkt an das Glas, das sie für Walentin eingeschenkt hat und das noch auf dem Vitrinenschrank steht.
» Zwar erinnere ich mich weder an meine Familie noch an mein Dorf oder daran, wie man mich ausgewählt hat, aber später, als ich älter war und mit Desjatnikow herumreiste, wurde mir klar, wie die Jungen rekrutiert wurden. Bestimmt wissen Sie ebenfalls, wie das damals ablief. «
Antonina nickt und räuspert sich, dann steht sie auf, geht zu dem Schrank und tauscht ihr leeres gegen das volle Glas aus. Sie weiß nicht, warum, aber irgendwie hätte sie sich Walentin näher gefühlt, wenn er ein Glas Wodka mit ihr getrunken hätte. Als sie sich wieder umdreht, sitzt er vor dem Kamin auf den Fersen und fächelt mit dem Blasebalg die Glut an.
Als Antonina wieder Platz genommen hat, bleibt Walentin am Kamin stehen, einen Fuß auf die Messingumrandung gesetzt. » Jedes Mal, wenn ich Zeuge wurde, wie sich der Dirigent einen neuen Jungen aussuchte, versuchte ich mich zu erinnern, wie es bei mir gewesen war: wie ein elegant gekleideter Mann in sauberem weißen Hemd und gestreifter Weste und glänzenden Stiefeln sorgfältig mein Gesicht und meine Hände musterte. Aber sosehr ich mich auch anstrengte, ich erinnerte mich an nichts. Es ist, als hätte es die Zeit vor Desjatnikows Ägide, ehe ich anfing, täglich stundenlang zu üben, nicht gegeben. «
Wieder denkt sie an Michail. Bestimmt erinnert er sich an dieses Leben, hier in Angelkow. Würde er je seinen Namen vergessen? Oder wie sie aussah?
» Einer der Musiker, ein Junge, mit dem ich einige Jahre lang übte, sagte mir später, dass ich lange Zeit nicht sprach. Vielleicht hatte ich mich ganz nach innen gekehrt; das Gleiche habe ich bei anderen Jungen beobachtet, vor allem wenn sie noch sehr klein waren.
Mein einziger Trost – und daran kann ich mich erinnern – war meine Überzeugung, dass mich eines Tages jemand, der sehr groß und stark ist, retten würde. Wahrscheinlich dachte ich an meinen Vater: Es war der Traum eines kleinen Jungen, vom Vater befreit und nach Hause zurückgebracht zu werden. Und weil ich mich nicht an zu Hause erinnerte, malte ich es mir als den schönsten Ort aus, den man sich vorstellen kann. « Er lächelt wehmütig. » Aber natürlich kam niemand. Ich gewöhnte mich an mein neues Leben und wuchs heran.
Nun kennen Sie meine nicht besonders aufregende Lebensgeschichte. « Er macht eine schwungvolle galante Handbewegung und lächelt sie an: » Voilà – Walentin Wladimirowitsch Kropotkin. Der kleine Junge, der ich einst war, existiert nicht mehr, Antonina. « Ihren Namen auszusprechen hat einen besonderen Reiz. Er kostet ihn aus wie eine süße Kirsche.
Pawel erscheint mit dem Teetablett. Als er den Raum wieder verlassen hat, fragt Antonina Walentin, wie lange er bei Desjatnikow geblieben sei.
» Als ich ungefähr vierzehn war, verkaufte er mich an ein Orchester in der Provinz Smolensk, das Prinz Jablonski gehörte. Wir spielten nicht nur bei seinen Abendgesellschaften, sondern er lieh uns auch an Freunde und andere Güter in der ganzen Provinz und über deren Grenzen hinaus aus. « Er nippt an seinem Tee. » Und so kam es, dass wir auch bei der Feier Ihres Namenstags spielten. «
» Das ist eine furchtbar traurige Geschichte, Walentin. «
» Nicht, wenn man sie mit dem Leben der Dorfbewohner vergleicht. Wäre ich nicht in ein Leibeigenenorchester gekommen, hätte ich vielleicht wie all diese armen Bauern tagaus, tagein mit gekrümmtem Rücken auf dem Feld schuften und ein entbehrungsreiches Leben fristen müssen, ohne je die Freuden der Musik
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