Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
und auf ihn hinabblickt, würde sie am liebsten die Spitze der Schere zwischen seine Lippen stoßen und sie aufzwängen, als könnte sie so die Antworten auf ihre brennenden Fragen aus ihm herauspressen. Wie sehr hast du eigentlich gekämpft, wo doch nur deine Hand verletzt ist? Dein Leben hast du offensichtlich nicht aufs Spiel gesetzt, um deinen Sohn zu beschützen …
Sie weigert sich vorzustellen, dass Michail tot sein könnte. Er ist nicht tot. Wenn er tot wäre, wüsste sie es. Er ist ihr Sohn.
» Je t’aime, Maman « , sagte er immer, wenn sie ihn beim Schlafengehen zudeckte. Schon als er noch ein Kleinkind war, fing sie an, mit ihm in der zweiten Sprache der russischen Adligen zu sprechen. » Je veux beaucoup de baisers « , fügte er für gewöhnlich hinzu, worauf sie sagte: » Wie viele Küsse hättest du gern? «
Manchmal wollte er fünf, manchmal zehn oder gar zwanzig. Es war ihr Schlafengehensritual. Dann bedeckte sie seine Hände und Wangen mit Küssen, und er stammelte unter Lachen, ihre Lippen würden ihn kitzeln.
Mit einem Mal ertappt sie sich bei dem Wunsch, mit der Schere noch etwas ganz anderes anzustellen, anstatt nur Konstantins Lippen zu öffnen. Am liebsten würde sie die Klingen in seinen Hals stechen, sie in die schorfige Stelle dort unterhalb seines Ohrs rammen, wo sich seine Halsschlagader befindet. Und dann zusehen, wie das Blut in pulsierendem Bogen herausspritzt, bis er schließlich sein Leben aushaucht. Es drängt sie so sehr, dies zu tun, dass ihre Hände zittern.
Aber welchen Sinn hätte es? Ja, sie könnte sich rächen, es wäre ein absurder, irrationaler Vergeltungsakt an Konstantin für seinen mangelnden Respekt und seine Dummheit. Aber gleichzeitig weiß Antonina, dass sein gewaltsamer Tod ihr nichts einbrächte außer einer Todsünde, mit der sie ihr Schicksal im Jenseits besiegeln würde. Ihren Sohn jedenfalls bekäme sie so nicht zurück.
Dennoch gestattet sie sich, langsam die Scherenspitze an seinen Hals zu pressen. Er schlägt die Augen auf, als hätte sie ihn gerufen, und sieht sie an. In seinen Augen liegt weder Überraschung noch Angst. Stattdessen erkennt sie Hoffnung. Tue es, sagen seine Augen. Töte mich, Antonina Leonidowna. Ich bitte dich darum.
Und als sie begreift, dass dies sein Wunsch ist, lässt sie die Schere sinken. Das Letzte, was sie will, ist, ihm seinen Wunsch erfüllen. Diese Geste, ein Racheakt ihrer Fantasie, hat ihr einfach nur eine momentane Erleichterung verschafft, sie an etwas anderes denken lassen als an Michails hübsches Kinn, seine glatte hohe Stirn, seine klaren grüngrauen Augen. Wieder hebt sie die Schere und presst diesmal die Spitze an die Innenseite ihres Unterarms knapp unterhalb des Spitzenbündchens ihres Ärmels. Sie sticht sie in die Haut und zieht, als handelte es sich dabei um eine Schreibfeder und bei ihrer Haut um Pergament, eine feste Linie. Dabei sieht sie Konstantin unverwandt an. Er starrt auf ihren Arm, und als sie seinem Blick folgt, bemerkt sie, wie entlang der geritzten Linie Blut aus ihrem Fleisch perlt.
Sie spürt keinen Schmerz, aber der Schnitt hat ihr ein dunkles unbekanntes Gefühl der Erleichterung verschafft. Sie wirft die Schere auf den Boden und kehrt zu ihrem Sessel zurück.
Am nächsten Tag geht es in Konstantins Zimmer zu wie in einem Bienenstock. Konstantin ist nicht mehr die stumpfsinnige Drohne, an die er sie bisweilen erinnert hat, sondern eine nutzlose Königin. Und wie in einem Bienenstock scheint das Leben aller von seinem Überleben abzuhängen.
Dr. Molow ist in Begleitung eines weiteren Arztes erschienen. Antonina kennt seinen Namen nicht, sie will ihn auch gar nicht wissen. Die beiden lassen den Grafen zur Ader und schröpfen ihn. Mittels einer Glassonde führen sie seinem Körper Flüssigkeit zu.
Pater Kirill, der Priester der Gutskirche, gehört mittlerweile zum festen Inventar, er hat auf dem Stuhl auf der anderen Seite des Bettes gegenüber Antonina seinen Posten bezogen. Und neben Lilja machen sich weitere Bedienstete zu schaffen – wie immer sind es zu viele. Antonina sitzt nach wie vor mit Tinka im Schoß auf Konstantins lederbezogenem Lehnstuhl in der Ecke und beobachtet das geschäftige Treiben um das Bett herum.
Als Lilja an diesem Morgen den Schnitt auf der Innenseite von Antoninas Unterarm gesehen hat, hat sie wortlos das getrocknete Blut abgewaschen. Dann hat sie einen Leinenstreifen darum gewickelt und ihr Suppe und Tee mit Konfitüre gebracht. Regelmäßig reinigt sie
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