Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
Brief mitgeteilt. Natürlich wussten es auch die Leibeigenen – vor ihnen konnte man nichts verbergen. Kaum hatte Warwara ihre morgendliche Übelkeit bemerkt, war für sie klar, dass die Gräfin in anderen Umständen war.
Auch hätte Antonina gern erfahren, wie es Lilja in den vergangenen vier Jahren ergangen war. Doch vor allem wollte sie sie um Verzeihung bitten, ihr erzählen, was im Arbeitszimmer ihres Vaters vorgefallen war. Aber sie waren keine Mädchen mehr. Sie waren jetzt verheiratete Frauen, und wenn Antonina damals die Tochter des Mannes gewesen war, dem Lilja gehört hatte, so war sie nun mit deren neuem Besitzer verheiratet. Sie konnte kein zweites Mal von Lilja erwarten, dass sie Freundinnen wurden. Außerdem war klar, dass Lilja ihr nicht mehr die gleichen Gefühle entgegenbrachte wie damals. Wie auch? Antonina hatte sie verraten. Sie war schuld daran, dass sie und ihr Bruder aus ihrem Zuhause und von ihren Eltern fortgerissen worden waren.
Sie nickte Lilja zu und ritt an den Frauen vorbei.
Ein paar Monate danach sagte Konstantin zu Antonina, dass es Zeit sei, sich um eine Amme und ein Kindermädchen zu kümmern. Er gab ihr eine Liste mit infrage kommenden Frauen, die auf benachbarten Gütern gearbeitet hatten, und forderte sie auf, sich eine auszusuchen.
Doch Antonina ließ eine Troika anspannen und sich auf der schneebedeckten Straße in das Dorf fahren, wo sie Lilja zuletzt gesehen hatte. Auf der Straße fragte sie einen Bauern, wo sie Lilja Petrowna finde. Er zeigte auf eine Hütte am Ende des Dorfes. Als der Kutscher ihr half, aus der Troika zu steigen, sagte sie ihm, er solle auf sie warten. » Sie wollen diese Hütte betreten, Gräfin? « , fragte er. » Allein? «
» Ja « , sagte sie, ging zur Tür und klopfte an. Der Kutscher folgte ihr besorgt. Ein Junge öffnete, Ljoscha, wie Antonina wusste. Sie lächelte. » Wohnt hier Lilja? « , fragte sie, und schon erschien Liljas Gesicht hinter ihrem Bruder. Sofort zeichnete sich ein verängstigter Ausdruck auf ihrem Gesicht ab.
» Kann ich hereinkommen, Lilja? « , fragte Antonina, und als diese nickte, drehte sich Antonina zum Kutscher um und sagte ihm abermals, er solle in der Troika warten. Obwohl ihm das offensichtlich gar nicht gefiel, tat er diesmal wie geheißen.
» Bist du Ljoscha? « , fragte Antonina, während sie in die Hütte trat.
Der Junge verbeugte sich. » Ja, Herrin « , sagte er. Er hatte eine klare, hohe Stimme. Sie sah sich verstohlen in dem düsteren Raum um, bemerkte die Wäschestücke – eine Tunika, einen Rock und zwei Paar Socken –, die an einer Schnur quer durch den Raum zum Trocknen aufgehängt waren. Auf dem Ofen stand ein Topf, in dem etwas blubberte, dem Geruch nach Buchweizengrütze. Abgesehen von einem Tisch, auf dem feines weißes Garn und ein Holzschiffchen lagen, gab es zwei Bänke, und an der Wand über dem Ofen hing eine Ikone. Das war alles.
» Ich werde dich nicht lange von der Arbeit abhalten « , sagte Antonina und ließ den Blick wieder zum Tisch zurückschweifen.
» Ich stelle Spitze her, um mir ein paar Kopeken dazuzuverdienen « , erklärte Lilja. Der ängstliche Ausdruck war noch nicht aus ihrem Gesicht gewichen.
Antonina trat näher. » Darf ich sie mir anschauen? Steh doch wieder bequem, Ljoscha. « Der Junge richtete sich auf und stellte sich neben seine Schwester.
Lilja hielt ihr das Ende der Spitzenborte hin.
» Sie ist wunderschön « , sagte Antonina. » So delikat. Ich wäre viel zu ungeschickt für diese Arbeit. « Nun, da sie hier war, fragte sie sich plötzlich, ob es klug war, ihr Anliegen überhaupt vorzubringen. Aber dann fasste sie sich ein Herz. » Ich bin gekommen, um dich um einen Gefallen zu bitten. «
» Einen Gefallen? «
» Ja. Ich erwarte ein Kind und werde in wenigen Monaten eine Kinderfrau benötigen. « Ehe Lilja etwas sagen konnte, fuhr sie fort. » Ich weiß, dass du noch kinderlos bist, und mein Mann wird es wahrscheinlich nicht gutheißen, wenn ich ihm eine Frau vorschlage, die keine Erfahrung mit Kindern hat, aber ich werde … «
Lilja unterbrach sie. » Ich habe Kinder gehabt. «
» Aber du sagtest doch, du hättest keine. «
» Sie leben nicht mehr. «
Antonina schnürte es die Kehle zu, und sie legte unwillkürlich die Hand auf ihren Bauch. Mit einem Mal war ihr schwindelig. » Ich muss mich setzen « , sagte sie. Lilja trat zu ihr, legte einen Arm um sie und führte sie zu einer Bank.
Zum ersten Mal war Lilja Antonina wieder so nah, dass sie
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