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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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interessiert mich nicht mehr. Guten Tag.«
    Alena wollte die Tür endgültig zuschlagen, aber Henrietta rief: »Halt, bitte warte« – in der Aufregung verfiel sie ins Du –, »Julius steckt in schrecklichen Schwierigkeiten! Ich dachte, das solltest du wissen. Darf ich reinkommen?«
    Alena zögerte. »In welchen Schwierigkeiten?«
    »Es heißt, er hätte gestern Abend ein Handgemenge mit einem Pommeraner gehabt und ihn dabei getötet. Reinhardt von Zwickow heißt der Mann. Die halbe Universität spricht schon davon. Morgen oder übermorgen soll Julius an höchster Stelle aussagen, danach wird entschieden werden, ob er sich vor dem Universitätsgericht der Georgia Augusta verantworten muss.«
    Alenas Puls begann zu rasen. Von Zwickow, der
Bursche
war ihr ein Begriff. Abraham hatte so manches Mal zähneknirschend über ihn gesprochen. Mit weichen Knien ging sie voran in die Küche. »Ich kann, äh, dir leider nichts anbieten.«
    Henrietta brachte ein kleines Lächeln zustande. »Einen Stuhl vielleicht?«
    »Ja, ja natürlich. Bitte.« Alena setzte sich ebenfalls.
    »Wir dürfen nicht zulassen, dass Julius ins Gefängnis kommt. Bestimmt ist er unschuldig. Dieser von Zwickow ist ein ganz übler
Bursche,
wahrscheinlich hat er Julius so provoziert, dass dieser gar nicht anders konnte, als sich zu wehren.«
    »Das könnte sein. Wo ist es denn passiert?« Alena hatte zwiespältige Gefühle. Einerseits musste Abraham trotz aller seiner Verfehlungen geholfen werden, das war klar, andererseits scheute sie die Verbrüderung mit einer Rivalin. Einer Rivalin? Henrietta konnte Abraham haben. Sollte sie doch selig werden mit ihm – so lange, bis er auch sie betrog.
    »Im Haus der Pommeraner. Dort soll ein furchtbares Besäufnis stattgefunden haben.«
    »Was hatte Abraham denn im Haus der Pommeraner verloren? Hat er etwa mitgefeiert?«
    »Ich weiß es nicht. Alena, ich bitte dich, wenn du Julius liebst, dann …«
    »Ich liebe ihn nicht mehr.«
    »O doch, das tust du. Ich müsste blind sein, wenn ich es nicht sehen würde. Ich war mir sicher, dass es so ist. Die verrücktesten Gedanken habe ich gehabt. Ich dachte, wenn ich ihn zu retten versuche und es gelingt, habe ich nichts davon, denn er wird ohnehin zu dir zurückfinden. Also wollte ich tatenlos zusehen. Ich sagte mir, wenn ich ihn nicht kriegen kann, soll sie ihn auch nicht kriegen. Aber dann kam ich mir klein und schäbig vor. Ich fragte mich: Was ist das für eine Liebe, die so selbstsüchtig ist? Wo bleibt das große, übermächtige Gefühl, wenn ich es dermaßen mit Füßen trete? Und dann wusste ich die Antwort: Die größte Liebe, der größte denkbare Liebesbeweis, ist der Verzicht. Eine reinere Form der Liebe gibt es nicht. Sag, Alena, rede ich dummes Zeug?«
    Alena schwieg. Henrietta, dieser kleine, verkleidete
Fuchs,
hatte sie sehr nachdenklich gestimmt.
    »Wirst du mir helfen, Julius zu retten?«
    »Wie sollte ich das tun?«
    »Indem du ihn versteckst, falls er fliehen muss.«
    »Was, hier?« Alena schüttelte den Kopf. »Selbst wenn ich es wollte, müsste ich es doch mit Mutter Vonnegut abstimmen. Und ob die dazu ja sagen würde, möchte ich sehr bezweifeln.«
    »Versuche es wenigstens. Versprichst du mir das?« Henriettas graue Augen blickten in die ebenholzschwarzen Augen Alenas.
    »Nun gut, ich verspreche es. Aber wo soll das alles enden?«
    »Kommt Zeit, kommt Rat.« Henrietta stand auf und lächelte voller Wehmut. »Du bist sehr schön, Alena. Viel schöner als ich. Ich hatte es befürchtet. Leb wohl.«
    »Leb wohl.« Alena blickte Henrietta nach, wie sie mit leichten Schritten die Küche verließ. Dann fiel die Haustür ins Schloss. Alena begann, Kartoffeln zu schälen, und während sie mechanisch die Tätigkeit ausübte, wanderten ihre Gedanken immer wieder zu Abraham und zu der schrecklichen Situation, in der er steckte. Konnte sie ihm wirklich helfen?
    Die Frage war nur von der Witwe zu beantworten. Alena ließ eine geschälte Kartoffel ins Wasser plumpsen und ging hinunter in den Keller. Sie trat in den kleinen Schreibraum, der stets ein wenig nach faulen Äpfeln roch, und sagte: »Auf ein Wort, Mutter Vonnegut, entschuldigt, wenn ich störe.«
    Die alte Frau blickte auf. »Du störst nicht mehr als Feder und Tinte, wenn man schreiben will. Was gibt’s?«
    Alena berichtete mit knappen Worten von der Notlage, in der Abraham sich befand, scheute sich aber, den Tod des von Zwickow zu erwähnen. »Könnten wir Julius hier unten im Keller für eine

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