Das Lied der Klagefrau
Weile verstecken, falls man seiner habhaft werden will?«
»Puh, Kind, da fragst du was! Du weißt, ich schätze Julius hoch, aber das klingt mir nicht
bon bon
im Ohr.«
»Bitte, Mutter Vonnegut.«
Die Witwe zog eine Schublade ihres Schreibtischs auf, roch an einem der angefaulten Äpfel und schloss sie wieder. »Wenn etwas faul ist, ist es faul. Manchmal ist es gut, wenn’s ein Apfel ist, der die Worte beim Schreiben beflügelt, manchmal ist es schlecht, wenn es sich um eine Sache wie beim Julius handelt. Ich bin eine ehrbare Witwe und kann’s mir nicht leisten, einen gesuchten
Philistranten
in meinem Haus zu verbergen. Wenn das rauskommt, ist mein Broterwerb
perdu,
und das in diesen schwierigen Zeiten.«
»Ja, Mutter Vonnegut.« Alena resignierte.
»Weißt du, was mein Sohn mir gerade schreibt? In Paris ist die Hölle los. Vor einer Woche hat’s dort dreihundert Tote bei einem Arbeiteraufstand gegeben. Irgendein Tapetenfabrikant wollte da die Löhne kürzen. Als ob so ein Fabrikant am Hungertuch nagen würde! Ich sag dir was: Wenn die Luft knapp wird, braucht jeder seinen eigenen Blasebalg. Nimm’s mir deshalb nicht bös.«
»Jawohl, Mutter Vonnegut.«
»Dann stecken die Nägel ja fest.« Die Witwe räumte ihr Schreibzeug fort und erhob sich ächzend.
»Mutter Vonnegut, ich … ich würde gern zum Hospital gehen, um weitere Erkundigungen einzuholen.«
»So, würdest du das? Ich will dir
etwas untern Fuß geben,
wie wir in Frankfurt sagen. Lass dich, um des lieben Herrgotts willen, nicht reinziehen in die Sache. Julius hat dich belogen und betrogen, vergiss das nicht. So, und nun Schluss damit. Wie steht’s mit dem Mittagessen? Ist alles vorbereitet?«
»Noch nicht, Mutter Vonnegut.«
»Na dann, hopp, hopp.«
Kurz vor dem Ende des Mittagessens – es hatte eine Stunde später als üblich begonnen, was von den
Burschen
mit kaum verhohlenen Unmutsäußerungen bedacht worden war – erschien ein hagerer Mann mit vorstehenden Augen und spitzem Adamsapfel in der Küche. Er stellte sich als Tobias Fockele vor,
Secrétaire
in der Verwaltung der Georgia Augusta und zurzeit Referent Seiner Exzellenz des Prorektors, Herrn Professor Runde. »Ich möchte nicht stören«, sagte er mit wichtiger Miene, »aber die Sache, um deretwillen ich hier bin, ist eilbedürftig.«
»Es wär noch Suppe da, Herr
Secrétaire
«, sagte die Witwe. »Niemand soll sagen, er wär am Tisch der Zimmerwirtin Vonnegut verhungert.«
»Nein, äh, danke. Darum geht es nicht.« Fockele wandte sich Alena zu. »Vermute ich richtig, dass Ihr Alena Abraham, die Ehefrau des Studenten Julius Abraham, seid?«
»Die bin ich.« Trotz ihres Herzklopfens versuchte Alena, ruhig zu bleiben. Wenn sie sich nicht irrte, war Fockele der Mann, der Abraham bei dessen Immatrikulation in einem nicht enden wollenden Sermon über die Pflichten eines Göttinger Studenten aufgeklärt hatte.
»Ich denke, Ihr braucht Euch nicht zu legitimieren, es genügt, wenn einer der Anwesenden mir bestätigt, dass Ihr die gewünschte Person seid.« Fockele blickte auffordernd in die Runde.
Von den
Burschen,
die sich bisher jeder Bemerkung enthalten hatten, meldete sich Amandus: »Ich glaube, das ist die gewünschte Person. Ich meine, wenn mich nicht alles täuscht.«
Jakob runzelte die Stirn, als überlege er stark. »Ich kenne keine junge Dame, die so heißt.«
»Ach?«, sagte Fockele. »Nun, dann …«
»Ich meine natürlich, außer dieser.«
»Ach so«, sagte Fockele. »Ich verstehe …«
»Nicht so schnell, ihr
Burschen!
«, rief Hannes. »Ich kenne eine, die heißt ebenfalls Abraham.«
»Ach?«, sagte Fockele.
»Sie wohnt in der Barfüßerstraße. Die Nummer weiß ich nicht mehr. Aber wenn es wichtig ist, könnte ich sie besorgen.«
»Nun, wenn das so ist …«, sagte Fockele.
»Sie heißt Berta mit Vornamen.«
»Eine Berta suche ich nicht«, sagte Fockele steif. Langsam ahnte er, dass mit ihm Schindluder getrieben wurde. »Ich verbitte mir …«
»Nun ist es aber genug«, ging die Witwe dazwischen. »Natürlich ist das Alena Abraham. Ich als ihre Zimmervermieterin muss es ja wissen, schließlich hat sie mir ihren Pass beim Einzug gezeigt. Worum geht es denn, Herr
Secrétaire?
«
»Danke, Madame Vonnegut, Euer Wort genügt mir.« Fockele wandte sich Alena zu. »Ich muss Euch, Frau Alena Abraham, fragen, wo Euer Mann ist. Gleichzeitig muss ich Euch darauf aufmerksam machen, dass eine unwahre Antwort Eurerseits strafbar wäre.«
»Der ist
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