Das Lied der Klagefrau
nicht hier.«
»Das dachte ich mir schon. In Richters Hospital ist er auch nicht. Wie Euch vielleicht bekannt ist, war Euer Ehemann letzte Nacht in eine Auseinandersetzung verwickelt, in deren Verlauf einer seiner Kommilitonen zu Tode kam. Der Name des Toten ist Reinhardt von Zwickow. Er ist der Spross einer hochangesehenen Familie aus Wollin im Pommerschen. Die Sache ist deshalb
précaire.
«
»Was hören meine Ohren da?« Die Witwe fasste sich an den Busen. »Das muss ein Irrtum sein.«
»Leider nein, Madame. Der Fall wird noch eingehend untersucht und verhandelt werden. Ich habe hier eine schriftliche Aufforderung für Julius Abraham, des Inhalts, dass er bis zum Abschluss der Untersuchung die Stadt nicht verlassen darf.« Fockele wedelte mit dem Papier in der Luft herum.
Alena wollte es an sich nehmen, aber der
Secrétaire
zog das Papier zurück. »Nein, tut mir leid. Ich darf diese amtliche Verordnung nur dem Empfänger persönlich aushändigen. Bitte teilt Eurem Ehemann, so Ihr ihn seht, mit, was ich Euch kraft meines Amtes übermittelt habe.«
»Das werde ich.« Tausend Gedanken schwirrten in Alenas Kopf herum.
Wenn sie Fockele richtig verstanden hatte, war Abraham unter eine Art Arrest gestellt. Er durfte sich frei bewegen, aber nicht die Stadt verlassen, bis sich alles geklärt hatte. Und dann? Was kam dann? Musste er ins Gefängnis? Hatte er vielleicht doch Blut an den Händen, obwohl Henrietta von seiner Unschuld überzeugt gewesen war? Wusste sie mehr, als sie gesagt hatte?
»Ich darf mich dann empfehlen.« Fockele hüstelte. »Und vergesst nicht, was ich Euch gesagt habe. Der
Philistrant
Julius Abraham hat sich bis auf weiteres zur Verfügung zu halten.«
Der
Secrétaire
ging und entfachte eine lebhafte Diskussion unter den jungen
Burschen.
Keiner glaubte an Abrahams Schuld. Andererseits: Sollte er von Zwickow doch erschlagen haben, so tönten sie, hätte er ein gutes Werk vollbracht. Der Pommeraner sei schließlich ein arrogantes und aggressives Rindvieh gewesen. Dumm wie der Ochs auf der Weide. »Allenfalls«, sagte Jakob, der angehende Jurist, »kann es sich um Notwehr handeln.
Vim vi repellere licet,
das wussten schon die alten Römer. Gewalt darf mit Gewalt erwidert werden. Und dass dieser erbärmliche von Zwickow den Zwist begonnen hat, steht für mich fest.«
»Für mich auch«, sagten die drei anderen.
Die Witwe war derselben Ansicht: »Mach dir keine Sorgen, Kind. Alles wird sich zurechtrücken, und Kastanien packt man zwischen die Betten.«
»Ja, Mutter Vonnegut.«
»Und nun geh auf dein Zimmerchen und ruh dich nach dem Schreck etwas aus. Die
Burschen
werden dir heute die Küchenarbeit abnehmen.« Die Witwe hob die Hand, um den aufkommenden Protest zu unterdrücken. »Keine Widerrede.«
»Danke«, flüsterte Alena. »Danke.«
Als sie die Tür ihres Zimmers hinter sich schloss, hatte sie das Gefühl, sie sei innerlich tot. Sie setzte sich auf ihr Bett und knetete die Hände. Stocksteif saß sie da, den Blick leer auf die wenigen Gegenstände im Raum gerichtet. Warum geht dir Abrahams Geschick so sehr zu Herzen?, fragte sie sich. Du bedeutest ihm nichts mehr – genauso wie er dir nichts mehr bedeutet. Aber warum wünschte ich dann, ich könnte weinen? Ich verstehe mich nicht. Sonst bin ich es doch, die anderen Trost spendet. Warum bin ich nicht in der Lage, mir selbst Mut zuzusprechen? Was ich brauchte, wäre eine Klagefrau. Eine Klagefrau braucht eine Klagefrau.
Ein flüchtiges Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie stand auf und wanderte im Zimmer umher. Doch plötzlich war ihr alles fremd, jeder Gegenstand, jedes Utensil. Sie fragte sich, warum das so war. Und dann wusste sie es. Abraham fehlte den Dingen, das Stück Vertrautheit. Sie waren alle fremd, denn sie stammten von Mutter Vonnegut.
Alena verließ den Raum und stieg die Treppe in den ersten Stock empor. Sie ging in das Puppenzimmer. Da saßen sie, Abrahams Lieblinge, ordentlich nebeneinander. Jede Puppe stand für einen Lebensabschnitt ihres Meisters und für einen Teil seiner Denkweise. Welcher Teil konnte ihn zum Mörder gemacht haben? Welche Puppe war dafür verantwortlich?
Alena musterte die Figuren. Kamen der Söldner oder der Schiffer dafür in Frage? Nein, sie hatten zwar ein lockeres Mundwerk, aber Hunde, die bellten, bissen nicht.
Der Schultheiß, der Besonnene, kam auch nicht in Betracht.
Der Landmann? War viel zu friedlich.
Gleiches galt für die Magd.
Und das Burgfräulein? Das war zänkisch und trug
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