Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
Vom Netzwerk:
schuldig befand, wäre sein ganzes Studium umsonst gewesen. Sein Doktortitel
passé
und seine Approbation erst recht. Im günstigsten Falle. Im ungünstigsten Falle würde er bis an sein Lebensende in einem Gefängnis schmachten. Vielleicht sogar am Galgen hängen.
    Was würde dann aus Alena werden?
    Es konnte ihm egal sein. Sie wollte ohnehin nichts mehr von ihm wissen. Ob er noch einmal zu ihr ging oder nicht, war einerlei, denn sie würde ihm ohnehin die Tür weisen. Er konnte nur abwarten, bis der Arm des Gesetzes ihn traf.
    Ohnmächtig.
     
     
    »Da war einer hier, der hieß Fockele, Herr Doktor.« Hasselbrinck hielt ein Papier in der Hand. »Das heißt, erst war er hier, und ich war nicht da, und dann ist er zur Witwe Vonnegut, und da wart Ihr nicht, und dann ist er wieder hierhergekommen, und ich war da.«
    Abraham verstand nur die Hälfte. Er wollte hinauf in den ersten Stock, um in seiner Stube allein zu sein, nichts zu hören und nichts zu sehen, aber Hasselbrinck ließ nicht locker. »In dem Papier steht, dass Ihr nicht weggehen dürft, ich meine, wegen dem Schlamassel letzte Nacht.«
    »Das wisst Ihr also auch schon.«
    »Jawoll, Herr Doktor. Hab’s von meiner Fau gehört, und die hat’s heut Morgen auf dem Markt aufgeschnappt. Da ist natürlich nichts dran, Herr Doktor. Wir alle wissen das. Auch die alte Grünwald hat gesagt, dass Ihr bestimmt nichts Böses verbrochen habt. Na ja, jedenfalls wollt der Fockele mir das Papier erst nicht geben, aber dann hab ich ihm gesagt, ich würd ihm den Empfang auch quittieren, und einem Altgedienten des Mündener Infanterieregiments könnte er geheime Sachen ruhig anvertrauen. Ich würd Euch den Zettel bestimmt geben. Hier ist er.«
    Abraham nahm das Papier entgegen und las:
    ARREST - ANORDNUNG
     
    Der Student Julius Abraham, geb. am 25. Juni 1736 in Tangermünde/Elbe, zum unten angegebenen Datum logierend bei der Zimmerwirtin Catharina E. Vonnegut, Güldenstraße 3 zu Göttingen, wird hiermit höchstamtlich angewiesen, Göttingen bis auf weiteres nicht zu verlassen.
    Göttingen, 2. Mai 1789
    Es folgten zwei kaum lesbare Unterschriften, von denen eine wahrscheinlich die des Jura-Professors Runde war, der zurzeit das Amt des Prorektors ausübte. Der andere Krakel konnte Fockele bedeuten oder auch nicht. Das war schon alles. Keine Begründung, keine Erklärung, nichts. Abraham fand, die Kürze der Anordnung kam schon einer Verurteilung gleich. Er wollte das Papier in der Faust zerknüllen, wurde aber von Hasselbrinck daran gehindert. »Zinksalbe oder Kamillensalbe oder Aloesalbe, Herr Doktor?«
    »Äh, wie meinen?«
    Der Krankenwärter deutete vielsagend auf Abrahams Mund. »Der
Bursche
scheint sich gewehrt zu haben. Na, ich hoffe, Ihr habt’s ihm tüchtig gegeben, Herr Doktor. Welche Salbe soll’s nun sein?«
    Abraham wollte keine Salbe. Eine Salbe war im Augenblick so ziemlich das Letzte, was er sich wünschte, aber das zu sagen wäre unhöflich gewesen. Also wählte er Kamillensalbe und ließ sich bei der Gelegenheit eingehend über die Expedierung von Burck nach Bad Grund informieren. Er hatte zwischenzeitlich überhaupt nicht mehr an den Abtransport gedacht, aber zum Glück war alles wie am Schnürchen gelaufen, wie der Krankenwärter nicht ohne Stolz mitteilte. Abraham lobte ihn dafür ausdrücklich, denn Hasselbrinck war nicht nur tüchtig, er hörte auch gern, wie sehr man seine Leistungen schätzte. Ansonsten war er bedingungslos loyal, und Abraham fand es tröstlich, dass er in ihm wenigstens einen hatte, der zu ihm stand.
    Doch Abraham war nicht der Einzige, der an diesem Samstagvormittag einer Behandlung bedurfte. Nacheinander kamen eine Magd, die sich beim Absanden von Zinntellern eine stark blutende Schnittwunde zugezogen hatte, ein Junge, der sich beim Sprung von einer Mauer den Arm ausgekugelt hatte, ein Ofensetzer mit Nasenbluten und ein Botenjunge mit Blasen an den Füßen.
    Alles mehr oder weniger medizinischer Kleinkram, wenn man von einer jungen Mutter absah, die mit Fieber eingeliefert wurde. Sie litt unter einer Entzündung der Brustdrüsen, einer
mastitis,
und hatte große Schmerzen beim Stillen durch zusätzliche Eiteransammlungen in den Höfen. Abraham ließ ihr und ihrem Kleinen eine Kammer im Erdgeschoss zuweisen, nachdem er die Abszesse behutsam geöffnet, eine zehrende Salbe, ein fiebersenkendes Mittel und eine schmerzlindernde Arznei verschrieben hatte. Um der Schicklichkeit Genüge zu tun, wurde Hasselbrincks Frau beauftragt,

Weitere Kostenlose Bücher