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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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für das Verbinden zu sorgen. Danach sollte sie eine Amme auftreiben.
    Darüber war es Nachmittag geworden. Abraham machte seine ursprüngliche Absicht wahr und stieg hinauf zu seiner Stube. Die Arbeit hatte ihn abgelenkt, nun drängten die Ereignisse der vergangenen Nacht wieder mit Macht in sein Hirn. Doch die Natur zeigte sich gnädig. Er war seit über dreißig Stunden auf den Beinen und schlief ein, kaum dass er sich auf seinem Dielenlager ausgestreckt hatte.
     
     
    Als er erwachte, war es schon dunkel. Er brauchte einige Zeit, um sich zurechtzufinden, doch dann standen die Vorfälle wieder so klar vor seinen Augen, als wären sie gerade erst geschehen. Er erhob sich und spülte sich das Gesicht mit Wasser ab. Dann nahm er seine Dissertation zur Hand und legte sie gleich wieder beiseite. Verzweiflung überkam ihn. Wenn wenigstens seine Puppen da gewesen wären! Doch die saßen fein säuberlich wie die Hühner auf der Stange in der Güldenstraße. Er wünschte sie sehnlichst herbei, denn sie waren ein Stück von ihm. Sie waren er. Und er war sie.
    In Gedanken strich er dem Schultheiß über seine goldene Amtskette, und dieser begann wie von selbst zu sprechen: »Ich weiß«, sagte er, »du bist zweiundfünfzig Jahre alt und hast vieles erlebt. Und ich weiß auch, dass du neben der Kunst des Bauchredens am meisten die Medizin liebst. Die eine Kunst bringt den Menschen das Lachen nahe, die andere hält sie am Leben. Doch die zweite Kunst ist wichtiger. Da wäre es ein Frevel, wenn du dich aufgibst. Denk an die vielen Kranken, die dich noch brauchen, denk nicht an dich, denk nicht an jetzt, denk einfach, es wird weitergehen.«
    »So ist es, mien Jung«, fiel der Schiffer ein. »Erinner dich an die Stürme in der Biscaya, die du abgewettert hast. Sechs Tage und sechs Nächte lang blies dir der Orkan um die Ohren, alle Segel zerfetzt, alle Fracht über Bord, da hast du auch gedacht, die Fische würden dich holen. Aber sie haben dich nicht geholt, und zwei Tage später warst du wieder in La Rochelle und hast den französischen Mädels den Vormast gezeigt.«
    Abraham lächelte zaghaft.
    »Oder denk daran, wie wir dem Feind in die Falle gegangen sind«, sagte der Söldner. »Du hattest die Hosen gehörig voll, aber du hast den Kopf nicht hängen lassen und wie ein Alter gekämpft. Den ganzen Tag dauerte die Schlacht, immer neue Angreifer stürmten den Berg runter, und am Ende wussten wir kaum mehr, wer Feind und wer Freund war. Da dachtest du auch schon, alles wär zu Ende. Aber es kam anders. Unsere Ersatztruppen rückten an und hauten uns raus. Merk dir: Es gibt immer einen Ausweg, man muss nur dran glauben.«
    »Oder«, sagte die Magd, »denk an die Zeit, als du jung warst und zwischen meinen Brüsten schliefst. Du durftest sie anfassen und schmecken und später, da durftest du sogar noch mehr – ein Mal jedenfalls, ein erstes Mal. Einerlei, was kommt, es war schön, und niemand wird dir die Erinnerung nehmen können.«
    »Denk an die Farben, die wundervollen Farben der Stoffe, und an die herrlichen Düfte«, schwärmte das Burgfräulein ganz ohne seine sonst so gezierte Art. »Die Stoffe waren marineblau, jadegrün, rosarot. Am liebsten aber trug Demoiselle von Ratorff Rosa, ein schönes, lichtes, zartes Rosa. Einmal jedoch trug sie ein Sommer-
Habit
in einer Farbe, die sich
Ägyptische Erde
nannte. Du schwärmtest sehr für das junge Fräulein, und trotzdem mochtest du den Ton nicht, jedenfalls nicht sehr. Aber du wurdest entschädigt durch das verführerische Parfum, das deine Angehimmelte trug: Es hieß
Agua di Colonia
und war nach einer Rezeptur der Katharina von Medici komponiert. Denk an die Stoffe, die ihren Körper umschmeichelten, an Seide, Musselin, Batist, Brokat, Taffet, denk an alles das und an die leuchtenden Farben dazu, leuchtender und schöner, als der schönste Regenbogen es wiederzugeben vermag. Nun, geht es dir da nicht gleich besser?«
    »Ja, vielleicht«, murmelte Abraham.
    »Vergiss nicht den Blitz, der dich einmal fast erschlagen hätte«, sagte der Landmann. »Du standest auf einem Kartoffelfeld, hattest den Pflug zur Seite gelegt und wolltest das Mittagsbrot einnehmen, als es plötzlich über dir blitzte und donnerte. Du gingst zu dem einzigen Baum auf dem Feld und stelltest dich darunter. Dann schlug der Blitz ein. Der Baum brannte lichterloh und war am Schluss nur ein schwarzer Strunk, aber dir war kein Haar gekrümmt. Nimm das als gutes Zeichen, wirf nicht die Flinte ins Korn. Alles

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