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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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den Gang zum Hospiz am Geismartor sparen. Aber wo lag das Gefängnis? Nein, sie würde zum Hospiz gehen und den Herrgott darum bitten, Abraham dort vorzufinden.
    Und sie würde etwas von sich mitbringen. Ein Zeichen ihrer Liebe und ihrer Treue. Da sie eine gepresste Hyazinthe oder eine Strähne ihres Haars für zu albern hielt – das war eher etwas für Backfische –, entschied sie sich für ihr hölzernes Kruzifix, das sie über viele Jahre auf ihren Reisen begleitet hatte. Etwas Persönlicheres gab es nicht, und das wusste Abraham auch.
    Und was war mit seinen Puppen?
    Es würde sicher nicht schaden, auch von ihnen ein Erinnerungsstück mitzubringen, denn sie wusste: Die Puppen bedeuteten ihm fast so viel wie sie selbst. Sie stieg hinauf in den ersten Stock und schaute sich unter seinen Lieblingen um. Ohne Abrahams Anwesenheit und ohne seine Bauchstimme kamen sie ihr seltsam seelenlos vor, ohne den schöpferischen Funken, der sie sonst belebte.
    Die Auswahl fiel ihr nicht leicht. Sie schwankte zwischen dem spitzen Hut des Burgfräuleins, dem spanischen Röhrchen des Alten Fritz und der Amtskette des Schultheiß. Schließlich entschied sie sich für die Kette, weil der Schultheiß diejenige Puppe war, die Abraham von allen am liebsten war. Sie legte die Kette an und freute sich darüber, wie schön ihre goldene Farbe zu dem Rot und Grün ihrer
Staffage
passte. Wenig später verließ sie das Haus.
    Draußen stellte sie fest, dass die Luft an diesem Abend wie Seide war. Die Betriebsamkeit auf den Straßen hatte deutlich nachgelassen. Nur hin und wieder begegnete sie einem Passanten. An der Ecke zur Geismarstraße stutzte sie. War das nicht Professor Richter, Abrahams Doktorvater, der ihr da entgegenkam? Sie grüßte höflich, doch er schien sie nicht zu erkennen. Dann, im letzten Moment, stutzte er, blieb stehen und rief: »Meine liebe Frau Abraham, wo hatte ich nur meine Augen!« Er lüftete den Dreispitz und verbeugte sich galant. »Sicher seid Ihr auf dem Weg zu Eurem tüchtigen Mann?«
    Alenas Herz machte einen Sprung. Sollte die Frage bedeuten, dass Abraham die Befragung bei Runde heil überstanden hatte?
    »Ihr werdet ihn im Hospiz antreffen. Der Schuldvorwurf an ihn wird bis auf weiteres nicht aufrechterhalten. Das jedenfalls hat mir Professor Runde, den ich vorhin traf, versichert.«
    »Gott sei Dank!« Es hätte nicht viel gefehlt, und Alena wäre dem Professor um den Hals gefallen.
    »Ich wünsche Euch noch einen schönen Abend. Und grüßt mir Euren Mann, ich hätte nie an ihm gezweifelt und würde mich sehr für ihn freuen.« Richter verbeugte sich abermals, murmelte etwas vom heimischen Herd, zu dem es ihn zöge, und ging rasch weiter.
    Alena atmete tief durch. Es war ihr, als würde ein Engelschor in ihrem Innersten singen. Abraham war frei, alles würde gut werden! Sie würden sich wieder vertragen, und das Kind, das sie unter ihrem Herzen trug, einen Vater haben. Zank, Zorn und Eifersucht, alles das, was gewesen war, erschien ihr in diesem Moment lächerlich und klein. Die Liebe allein war es, die zählte.
    Kurz vor dem Geismartor passierte sie eine Straße namens In den Wandrähmen und musste kurz danach haltmachen. Der Weg war hier wegen eines Neubaus abgesperrt. Es handelte sich um ein Accouchierhaus, ein Entbindungshospital, vor allem für ledige Mütter, das hier entstehen sollte. Das Bauvorhaben hatte in der Stadt Fürsprecher und Gegner gehabt, doch die Fürsprecher hatten sich am Ende durchgesetzt. Es war vorgesehen, dass die jungen Mütter zwei Wochen nach ihrer Niederkunft das Haus verlassen sollten, und zwar frei von jeder Sünde, was keineswegs eine Selbstverständlichkeit darstellte. Noch immer war es gang und gäbe, schwangere Mägde oder Zugehfrauen vor die Tür zu setzen, ihnen eine Geldstrafe an die Gemeinde aufzubürden und eine öffentliche Kirchbuße zu verlangen. Da alle diese Repressalien in dem neuen Hospital entfallen würden, schien dem Haus von vornherein großer Zulauf sicher.
    Alena hielt inne und tastete unwillkürlich ihren Leib ab. Für sie würde die Fertigstellung der Klinik zu spät kommen, aber gottlob brauchte sie deren Dienste auch nicht in Anspruch zu nehmen. Sie war eine verheiratete Frau und konnte zu Hause in der sicheren Obhut einer Wehfrau niederkommen.
    Ihre Gedanken kehrten in die Wirklichkeit zurück. Die Baustelle zwang sie zu einem Umweg jenseits der Straße. Sie bog ab, ging ein Stück an der Stadtmauer entlang, um auf diese Weise zum Geismartor und

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