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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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herbei. Du bist stark. Du würdest mit diesem Verrückten fertig werden.
    Aber auch sie musste stark sein. Für sich und für das Kind. Sie war in den letzten Tagen ganz sicher geworden, dass sie es unter dem Herzen trug. Ihr Kind, Abrahams Kind. Wenn sie daran dachte, dass sie vielleicht nie wieder zu ihm zurückkehren könnte, schnürte sich ihr die Kehle zu.
    Was hatte der Verrückte mit ihr vor?
    Sie versuchte, sich abzulenken, indem sie sich Namen für das Kind ausdachte. Wie sollte der Junge heißen? Denn dass es ein Junge werden würde, schien ihr klar. Abraham war nicht der Mann, der ein Mädchen zeugte.
    Vielleicht Julius wie sein Vater? Der Name hatte seinen Ursprung im Geschlecht der römischen Julier, deren sagenhafter Stammvater Julus ein Sohn des Aeneas war. Aeneas wiederum, so hatte Abraham ihr einmal erzählt, war der Sohn des Anchises und der Aphrodite. Und Aphrodite war die Göttin der Liebe und der Schönheit – ja, das passte, denn schön sollte er sein, ihr kleiner Sohn …
    Seltsame Gedanken habe ich, schoss es ihr durch den Kopf, aber sie lenken mich ab. Oder soll mein Söhnchen Abraham heißen wie sein Großvater? Nein, Unsinn, das geht nicht, dann wäre sein voller Name Abraham Abraham … Dann vielleicht einen Namen der Apostel? Simon oder Andreas? Oder Jakobus? Johannes? Philippus? Judas? Nein, nicht Judas. Dann vielleicht doch besser Julius …
    »Wir sind da.« Alena vernahm Laute, die sie nicht zuordnen konnte. Dann folgte ein Knarren und Quietschen. Mit derben Handbewegungen wurde ihr der Sack vom Kopf gerissen. Gleich darauf der Knebel aus dem Mund entfernt. Sie blickte auf und blinzelte. Nachdem ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte sie schemenhaft einen Mann mit einem Holzbein vor sich. Der gebeugten Haltung nach war es ein älterer Mann. Sein Gesicht konnte sie nicht genau sehen, denn er stand im Gegenlicht. Er hatte eine Falltür hochgeklappt, unter der sich ein Erdloch gähnend öffnete. Eine billige Rüböllaterne flackerte darin und verbreitete schummriges Licht. »Wo bin ich hier?«, stammelte sie.
    »Am Ende der Welt.« Der Verrückte hielt einen Knüppel in der Hand, mit dem er unmissverständlich auf das Erdloch deutete. »Los, steigt da hinab!«
    Alena blieb stehen und bemühte sich, trotz ihrer Angst kühlen Kopf zu bewahren. »Was wollt Ihr von mir? Ich bin eine unbescholtene Frau. Ich habe Euch nichts getan.«
    »Ihr vielleicht nicht, meine Schöne«, kam die Antwort aus dem Halbdunkel, »aber Euer verfluchter Liebster, der sich Julius Abraham nennt.«
    Alena dachte an ihr Kind, bat Abraham insgeheim um Verzeihung und sagte: »Der, von dem Ihr redet, ist mir gänzlich unbekannt. Lasst mich gehen. Es kann sich nur um eine Verwechslung handeln.«
    Wieder das höhnische Lachen. »Das könnt Ihr jemandem erzählen, der noch an das Gute im Menschen glaubt, einem Träumer oder einem Schwärmer, doch das bin ich nicht. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass Ihr die Richtige wart, der ich auflauerte, dann war es die Kette, die Ihr um den Hals tragt. Es ist die Amtskette einer Puppe, die Euer Liebster Schultheiß nennt. Also, verkauft mich nicht für dumm. Und jetzt marsch, hinunter mit Euch!«
    Alena starrte in das Erdloch. Es maß vielleicht drei Schritt im Quadrat, wirkte drohend und schien sie verschlucken zu wollen.
    »Na los, wird’s bald?«
    Es blieb ihr nichts anderes übrig, als über eine grob gezimmerte Leiter hinab in die Tiefe zu steigen. Sie zählte neun Stufen, bis sie unten angelangt war. Die Ausschachtung war so tief, dass sie stehend nicht über den oberen Rand hinausblicken konnte. Sich umwendend stellte sie fest, dass die Höhle sich weiter unter der Erde erstreckte. Es musste Wochen gedauert haben, sie auszuheben und schließlich zu einer Art Erdbehausung zu machen.
    »Tretet zur Seite, macht schon!«
    Alena gehorchte und erkannte einen roh zusammengezimmerten Tisch, eine ebensolche Bank und eine Lagerstatt aus trockenem Laub mit einigen Fellen darauf. Dazu links, rechts und über sich starke Balken, mit denen wie in einem Bergwerk Wände und Decken abgestützt worden waren. In einigen der Balken steckten Nägel, an denen allerlei Utensilien hingen: Grabewerkzeuge, Angelruten, Haken und Schnüre, zwei oder drei billige Kleidungsstücke, eiserne Töpfe und Pfannen, eine Rückenkiepe, eine Spiegelscherbe und – ein schwarzer Doktorhut.
    »Ihr könnt so laut schreien, wie Ihr wollt, niemand wird Euch hören«, sagte der

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