Das Lied der Klagefrau
Verrückte, während er zu Alena hinabkletterte.
Trotz der bedrohlichen Situation schwand ein Teil ihrer Angst, denn sie erkannte nun, dass er kaum größer war als sie selbst. Und er war tatsächlich alt. Sein Gesicht, das sie sich als hässliche Fratze ausgemalt hatte, war eher nichtssagend, wenn auch von Runzeln durchzogen wie das Netz einer Kreuzspinne.
»Bitte, lasst mich frei«, bat sie. »Ich kann Euch zu nichts nütze sein. Ich … ich bin schwanger.«
»Setzt Euch.« Der Verrückte deutete auf die Bank. »Dass euch Frauen nie etwas anderes einfällt, als schwanger zu sein, wenn ihr um etwas bettelt. Mir ist es egal, ob Ihr schwanger seid oder nicht. Es ist unwichtig für das, was ich vorhabe. Setzt Euch schon. Und haltet Eure Hände hoch.«
Er fesselte Alena und befahl ihr dann, die Füße zu schließen, die er ebenfalls mit einem Seil zusammenband. »Welch hübsch verschnürtes Paket Ihr seid!«, höhnte er danach. »So wird es Euch schwerfallen, mir zu folgen.«
»Was habt Ihr vor? Ihr könnt mich nicht bis in alle Ewigkeit hier festhalten.«
Der Verrückte setzte sich neben sie. Alena rümpfte die Nase. Der Mann roch penetrant nach Schweiß und ungewaschenen Kleidern. Er steckte in einer Art Überwurf aus dunklem Wollstoff, der aussah, als hätte er ihn selbst zurechtgeschnitten. Sein Schädel war blank und glänzte schwach im Licht der Laterne. »Ich werde Euch so lange festhalten, wie es mir beliebt. Was sind ein paar Wochen oder Monate gegen die vielen Jahre, die ich verloren habe. Vielleicht überlasse ich Euch hier für immer Eurem Schicksal, denn Ihr seid die Frau eines Scharlatans. Ihr habt nichts anderes verdient.«
Alena spürte erneut Panik in sich aufkommen. Wenn der Verrückte ging und tatsächlich nicht wiederkam, würde sie in diesem Loch schon nach wenigen Tagen jämmerlich verdurstet sein. Das musste um jeden Preis verhindert werden! Ruhig Blut, ermahnte sie sich. Was würde Abraham in dieser Situation tun? Er würde den Verrückten in ein Gespräch hineinziehen, ihm den Hass zu nehmen versuchen, er würde scheinbar auf ihn eingehen, in jedem Fall würde er reden, reden, einfach reden … »Vielleicht habt Ihr recht damit, dass Abraham ein Scharlatan ist«, sagte sie, »aber ich habe es bisher noch nicht bemerkt. Was bringt Euch zu dieser Ansicht?«
Im Gesicht des Verrückten arbeitete es. Dann stand er auf, ging zum Tisch und trank Wasser aus einem Krug.
»Kann ich auch etwas Wasser haben?«, fragte Alena.
»Nein. Nicht die Frau eines Scharlatans.«
»Warum bezeichnet Ihr ihn so?«
Der Mann setzte sich wieder, diesmal zum Glück in einigem Abstand. Er schwieg.
Alena wagte nicht, ihre Frage zu wiederholen.
Eine Weile verging. Sie beobachtete ihren Entführer, der mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein schien und nur ab und zu das Knie über seinem Holzbein abtastete. Vielleicht hatte er Schmerzen. Dann richtete er den Blick auf sie, durchdringend, tückisch. »Wie ist Euer Name?«
»Ich heiße Alena.«
»Alena«, wiederholte er, als wäre der Name ein Schimpfwort. »Alena und der Scharlatan Abraham. Welch ein schönes Paar.«
»Alena wie Magdalena, nach der heiligen Maria von Magdala.«
»Bigottes Geschwätz! Ich glaube schon lange nicht mehr an einen Schöpfer.«
»Wer seinen Glauben aufgegeben hat, hat sich selbst aufgegeben, so heißt es. Ihr seid nur verbittert, das ist alles. Gott hat sich nicht von Euch abgewendet, Ihr müsst ihn nur erkennen. Wer ihn sehen will, der sieht ihn, und wer beten will, der bete. Wollt Ihr mit mir beten?«
»Bist du von Sinnen, Schlange?« Der Verrückte sprang auf, den Knüppel in der Hand schwingend. »Behalte deinen Apfel! Komm mir nicht mit dem lieben Gott! Den gibt es nicht, denn wenn es ihn gäbe, hätte er nicht zugelassen, was mir geschah!«
»Gott macht nur Angebote, es steht jedem frei, sie anzunehmen oder abzulehnen.«
»Wer bist du, dass du wie eine Priesterin redest? Hüte dich, mich zu reizen. Ein Leben gilt mir nichts – meines nicht und deines erst recht nicht. Ich will nur meine Rache, und die werde ich bekommen. Sie ist das Einzige, für das ich noch lebe. Also, wer bist du, außer, dass du die Frau eines Scharlatans bist?«
Mühsam beherrscht sagte Alena: »Meinen Namen habe ich schon genannt. Ich bin eine Tochter der Freien Reichsstadt Köln, mein Vater besaß dort bis zum Jahr achtzig ein Bankhaus, das
Bankhaus zum Pütz
am Neumarkt.«
Sie hielt inne und dachte: Solange ich rede, wird der Verrückte mir
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