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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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dem dort befindlichen kleinen Hospiz zu gelangen. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen, denn in unmittelbarer Nähe der Mauer konnte man keine zwei Schritte weit sehen. Sie blickte zum Himmel empor und sah dort einen blassen Mond stehen.
    Und dann wurde der Mond plötzlich schwarz.
    Alles wurde plötzlich schwarz vor ihren Augen, denn sie hatte einen heftigen Schlag auf den Kopf bekommen. Bevor sie zu Boden sank, wurde sie aufgefangen und auf einen zweirädrigen Karren gehoben. Kundige Hände untersuchten sie, schienen mit dem Ergebnis zufrieden zu sein und stopften ihr einen Knebel in den Mund. Nach wie vor bewusstlos, richteten die Hände sie halb auf und streiften ihr einen Sack über den Körper. Ein unterdrücktes, höhnisches Lachen erklang.
    Rumpelnd setzte sich der Karren in Bewegung. Er wurde den schmalen Weg an der Stadtmauer entlanggezogen, erreichte das Geismartor und passierte es ungehindert, denn die Zeit für den Toresschluss war noch nicht gekommen.
    Weiter ging die Fahrt. Weiter und weiter nach Süden zu den angrenzenden Wäldern.
    Irgendwann wachte Alena aus ihrer Ohnmacht auf. Ihr Kopf dröhnte, als würde ihr ein Hammer gegen die Stirn schlagen. Sie blinzelte, aber sie konnte nichts sehen. Etwas schnürte sie ein, dem Geruch nach war es ein schimmliger Kartoffelsack. Panik erfasste sie. Sie wollte um Hilfe rufen, aber es gelang ihr nicht. Der Knebel hinderte sie daran. Sie strampelte und trat um sich, wälzte sich von einer Seite zur anderen, versuchte aufzustehen – alles vergebens. Sie konnte sich nicht befreien.
    »Ich sehe, Ihr seid wach geworden«, sagte eine Stimme von irgendwo.
    Alena erkannte, dass es die Stimme war, die zu dem Mann gehörte, der den Karren zog. Bei jedem zweiten Schritt, den er ging, erklang ein absonderliches »Tock«. Wieder versuchte sie, etwas zu sagen, doch nur ein dumpfer Laut drang über ihre Lippen.
    »Ihr seid sehr schön«, sagte die Stimme mit hämischem Unterton. »Es wird Euren Liebsten schmerzen, wenn er hört, dass er Euch nie wiedersehen wird.«
    Alena zitterte. War das ein Verrückter, der da zu ihr sprach?
    »Ihr wundert Euch vielleicht, dass ich weiß, dass Ihr einen Liebsten habt. Ich weiß aber noch viel mehr. Ich weiß, dass er Julius Abraham heißt und nichts weiter ist als ein armseliger Puppenspieler.« Die Stimme verstummte. Die Räder unter Alena rumpelten. Dann setzte die Stimme wieder ein. »Ein armseliger Puppenspieler und ein noch viel armseligerer Medizinstudent. Seine Stunden als Scharlatan in Richters Hospital sind gezählt. Dafür werde ich sorgen, und Ihr, meine Schöne, werdet es hinnehmen müssen, ob Ihr wollt oder nicht.«
    Der Karren machte einen Sprung, als er über einen größeren Stein gezogen wurde, Alena wurde in die Luft geschleudert und landete schmerzhaft auf dem Rücken.
    »Ich werde den Scharlatan vernichten, denn er hat es verdient, tausend Mal verdient. Ja, das werde ich. Vielleicht, meine Schöne, fragt Ihr Euch, wer ich bin, nun, meine Antwort ist diese: Ihr könnt mich ›Nemo‹ nennen, denn Nemo bedeutet Niemand. Ihr könnt mich aber auch ›Nemorensus‹ rufen, was so viel heißt wie Der-zum-Wald-Gehörige. Sucht es Euch aus, wenn Ihr wieder sprechen könnt.« Abermals erklang das höhnische Lachen. »Weit ist es nicht mehr. Dann werdet Ihr meine Einladung zu einem Aufenthalt unter der Erde annehmen. Zu einem sehr ungemütlichen Aufenthalt.«
    Alena spürte, wie der Karren langsamer wurde. Dann hörte sie kratzende Geräusche an den Wänden des Wagens und erkannte, dass er durch dichtes, zähes Gestrüpp gezogen wurde. Sie wusste sehr gut, welche Geräusche während einer Karrenfahrt auftreten konnten, denn oftmals hatte sie Abraham beim Ziehen der gemeinsamen Habe geholfen. Sie hatte sich wie er in die ledernen Zugriemen gelegt und sich Seite an Seite mit ihm vorwärtsgekämpft – immer dann, wenn die Chausseen wieder einmal unwegsam geworden waren durch Schnee, Matsch oder Steinschlag.
    Sie waren schon so lange ein Paar. Genau genommen sechseinhalb Jahre, seit sie sich zum ersten Mal in der Altmark gesehen hatten. Es war ein eigenartiges Aufeinandertreffen gewesen. Abraham hatte zunächst nicht mit ihr sprechen wollen und – schüchtern, wie er war – seine Puppen vorgeschickt. Sie hatten für ihn geredet, jede auf ihre ganz eigene Art. Und Alena hatte gespürt, wie ihr Herz ihm mit jedem Wort der Puppen mehr zuflog. Ach, Abraham!, dachte sie. Wie sehr wünsche ich dich in diesem Augenblick

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