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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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Puls und stellte fest, dass er ruhig und stetig schlug. Er hätte viel darum gegeben, zu erfahren, welche Traumbilder vor Pentzlins geistigem Auge standen. Vielleicht waren es Eindrücke aus seiner Kindheit, vielleicht Erlebnisse beim Volkstanz auf der Tenne, vielleicht auch der Anblick des Mädchens, das ihn zum ersten Mal geküsst hatte.
    Die Ereignisse, die er bei seinem Unglück in Bad Grund hatte ertragen müssen, standen ihm mit Sicherheit nicht vor Augen. Dafür wirkte er zu entspannt. Abraham ertappte sich dabei, dass es ihm fast darum leidtat, denn jede erinnerte Kleinigkeit konnte wichtig sein, um hinter die Ursache der seltsamen Schlafkrankheit zu kommen.
    Er stieß Pentzlin mehrmals gegen die Schulter und konstatierte zufrieden, dass sein Patient in der Tat sehr fest schlief. Dann schob er mit einiger Anstrengung das Krankenbett direkt an die Wand des Saals. Auf diese Weise war sichergestellt, dass niemand hinter das Bett schlüpfen und den schlafenden Pentzlin als Schutzschild missbrauchen konnte.
    Am besten wäre natürlich gewesen, Pentzlin in einem anderen Raum zu verstecken, aber dann – Abraham gestand es sich ein – hätte er keinen Lockvogel mehr gehabt. Es war ein hohes Risiko, das er einging, aber er sah keinen anderen Weg.
    Er hoffte inständig, alles würde gutgehen.
     
     
    »Wo wart Ihr nur den ganzen Nachmittag, Hasselbrinck?«, fragte Abraham Minuten später.
    Er stand dem Krankenwärter, der einen vollen Botschamper in der Hand hielt, auf dem Gang im Erdgeschoss gegenüber.
    »Der Frau mit der Brustentzündung geht’s besser, Herr Doktor. Ich war grad bei ihr.«
    »Ich war auch schon bei ihr. Sie macht in der Tat gute Fortschritte. Morgen oder übermorgen kann sie entlassen werden – und mit ihr der Säugling.«
    »Jawoll, Herr Doktor.« Hasselbrinck wollte weiter, wurde aber von Abraham zurückgehalten. »Ihr habt meine Frage nicht beantwortet. In diesem Haus ist es üblich, dass man sich bei mir abmeldet, wenn man es verlässt.«
    »Verzeihung, Herr Doktor.«
    »Es ist ja nicht so schlimm.« Abraham tat es fast schon leid, so streng gewesen zu sein. »Also, wo wart Ihr?«
    Hasselbrinck trat von einem Bein aufs andere. Es schien ihm nicht richtig, von seinem Besuch bei Alena zu erzählen, weil er gewissermaßen hinter Abrahams Rücken zu ihr gegangen war. Dass sie ihm aufgetragen hatte, ihren Mann zu grüßen, machte sein Problem nicht kleiner. Also versuchte er es mit einer Halbwahrheit. »Ich hab mich ja noch um den armen Gottwald kümmern müssen, Herr Doktor. Der musste ja nach Bad Grund gefahren werden. Bis ich einen Kutscher gefunden hab, das hat gedauert. Und dann war da ja auch noch der ganze Papierkram und das Transportgeld, das nicht so hoch sein durfte, und so weiter.«
    »Ach so, natürlich.«
    »Und dann musste das ja alles holterdiepolter gehen, Herr Doktor.«
    »Ich verstehe.« Abraham musste insgeheim zugeben, dass er an Gottwald überhaupt nicht mehr gedacht hatte. Trotzdem hatte die Fuhre sich wahrscheinlich schon um die Mittagszeit auf den Weg gemacht, und Hasselbrinck war den ganzen Nachmittag nicht da gewesen.
    Als hätte der Krankenwärter Abrahams Gedanken gelesen, setzte er hinzu: »Und dann noch Pfarrer Egidius, Herr Doktor. Der musste ja auch noch kommen. Erst wollte er nicht, weil er den Katechismusunterricht abbrechen sollte, aber dann hat er’s doch einrichten können. Hat aber gedauert, das kann ich Euch sagen.«
    »Ach so.« Auch daran hatte Abraham nicht gedacht. »Fand denn eine Andacht statt? Ich meine, wie bei Burck?« Bei Burck hatte er Alena gebeten, die rechten tröstenden Worte zu finden. Wie lange das her zu sein schien! »War meine Frau auch hier?«
    »Nein, Herr Doktor.« Hasselbrinck scharrte mit den Füßen und blickte angelegentlich auf seine Schuhspitzen. »Da war keine Zeit. Der Pfarrer ist allein gekommen. Nur mit seinen heiligen Sachen im Gepäck, ich meine, was ein Pfarrer so braucht, wenn er ’ne Andacht halten will.«
    »Ja, natürlich. Das war sehr umsichtig von Euch, vielen Dank.«
    »Der Pfarrer hat Gottwald gesegnet und dann den Wagen, mit dem er
chauffirt
wird, und dann den Kutscher. Cord Möllrich ist’s, aus der Barfüßerstraße, falls Ihr den kennt. Verheiratet, elf Kinder, und das zwölfte ist schon unterwegs. Und dann hat der Pfarrer noch gebetet und das Kreuz geschlagen und noch mal gebetet, und am Schluss hat er noch das Vaterunser gesprochen, und weil kein anderer da war, mussten ich und meine Frau und die alte

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