Das Lied der Klagefrau
nichts zuleide tun, und solange er mir zuhört, wird er mich nicht allein lassen. Schnell sprach sie weiter: »Es war ein großes, dreigeschossiges Palais aus Sandstein, in dem meine Familie gleichzeitig wohnte. Mit bürgerlichem Namen hieß ich Friederike Philippa zum Pütz, doch als ich im Jahre achtzig als Novizin in das Kölner Karmel
Maria vom Frieden
eintrat, nahm ich den Namen Alena an. Ich dachte, ein beschauliches Leben in der Abgeschiedenheit des Klosters sei das Richtige für mich. Doch ich hatte mich geirrt.«
Wieder machte Alena eine Pause. Sie blickte unauffällig zu ihrem Entführer und sah, wie er mit gleichgültigem Gesicht zur Decke emporstarrte. Offenbar war er mit seinen Gedanken ganz woanders. Vielleicht war er in diesem Moment sogar ein anderer? Alena fiel ein gewisser Pastor Matthies aus dem Elbestädtchen Steinfurth ein, in dessen Innerem zwei Menschen geschlummert hatten: einerseits der Gottesmann, der betete und Gutes tat – andererseits der Mörder, der andere mit Waffen aus der Folterkammer hinrichtete. Abrahams Onkel, damals schon ein Arzt, hatte erklärt, die Persönlichkeit des Pastors sei wie ein Krug in mehrere Scherben zersprungen, weshalb man die Krankheit, für die es noch keinen Namen gab,
Morbus testae
nennen könne. Seiner Meinung nach müsse es die Aufgabe der medizinischen Forschung sein, die
testae
wieder zu einem guten Ganzen zusammenzufügen, doch leider sei dies bis heute nicht gelungen.
Konnte es sein, dass der Verrückte ebenfalls eine gute Seite hatte? Eine, die in diesem Augenblick wach war, während die andere in seinem Inneren schlief?
Rasch redete Alena weiter: »
Ora et labora et tace,
bete und arbeite und schweige, das war nichts für mich, jedenfalls nicht ausschließlich. Ich spürte mit jedem Tag mehr, wie mir das Lachen, die Muße und das anregende Gespräch fehlten. Ich war nicht zur Nonne geboren. Und doch wollte ich Gott mein Leben lang nahe sein und ihm wohlgefällige Werke verrichten. So kam ich auf den Einfall, mich als Klagefrau zu verdingen, denn gestorben wird auf dieser Welt immer, Tausende von Malen an jedem Tag. Ich wollte den trauernden Hinterbliebenden Trost spenden, ihnen in ihren schweren Stunden zur Seite stehen, mit ihnen beten, weinen, klagen, denn gemeinsame Trauer ist leichtere Trauer. Mein Entgelt sollte nicht bare Münze sein, sondern nur Speise und Trank – das Notwendigste zum Leben, mehr nicht. Denn im Gegensatz zu meinem Vater, der sich das Leben nahm, als sein Bankhaus bankrottging, bedeutete mir Geld nicht viel. Mir nicht, doch meiner Mutter und meinen Geschwistern umso mehr, als klarwurde, dass sie ihren aufwendigen Lebensstil nicht mehr beibehalten konnten.«
»Wie hast du den Scharlatan kennengelernt? Durch einen Trauerfall in seiner Familie?« Die Stimme des Verrückten ließ keinen Zweifel aufkommen: Er besaß keine gute Seite.
Alena kämpfte ihre Enttäuschung nieder. Sie musste die Frage beantworten, wollte sie den Unhold nicht herausfordern. Aber über ihre erste Begegnung mit Abraham gab es nicht viel zu erzählen. Dennoch musste sie viel erzählen, damit der Verrückte nicht fortlief und am Ende vielleicht sogar Vernunft annahm. »Ich hatte drei Geschwister, zwei Brüder und eine Schwester. Von allen vier Kindern meiner Eltern war ich das Nesthäkchen. Meine beiden Brüder arbeiteten bei meinem Vater in der Bank und versuchten, die traditionellen Werte des Hauses hochzuhalten. Das heißt, Geld solide anzulegen und zu mehren, im Sinne unserer Kunden und getreu dem Leitspruch, dem die Bank schon seit dem Dreißigjährigen Krieg verpflichtet war, als sie die Produktion von Kanonen, Musketen und anderen Waffen finanzierte:
Semper fidelis.
Leider waren meine Brüder diesem Motto nicht immer treu. Sie schätzten teure Kleider und aufwendige Feste höher ein als Bescheidenheit und harte Arbeit. Sie fehlten auf keinem der großen Bälle in der Stadt und luden ihrerseits zu prachtvollen Lustbarkeiten ein. Im Park hinter unserem Palais wurden riesige Zelte aufgebaut und mit kostbaren Girlanden, Lampions und
Bouquets
geschmückt, die besten Kapellmeister mit ihren Musikern waren gerade gut genug, um für ihre Gäste aufzuspielen, Sänger, Magier und Rezitatoren boten mannigfaltige Kurzweil, fulminante Feuerwerke wurden abgebrannt, fantastische Maskeraden abgehalten. Und zu alledem wurde stets auf das verschwenderischste getafelt. Die Tische bogen sich unter den Speisen, Acht- oder Zehn-Gänge-Menüs waren die Regel:
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