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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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richtig sein möge, und verlagerte sein Gewicht von einem Bein aufs andere. Anfangs hatte er es sich auf einem Stuhl bequem gemacht, doch er war zu unruhig gewesen. Er stand lieber. Auch hatte man im Stehen einen besseren Überblick. Er schaute zum Fenster hinüber und stellte fest, dass kaum noch Licht in den Raum fiel. Der Tag war der Nacht gewichen.
    Wie lange er schon im Schatten des Schranks verharrte, wusste er nicht. Um irgendetwas zu tun, öffnete er ihn und holte eine Operationslampe hervor, die er mit Stahl und Stein entzündete. Dann fiel ihm ein, dass der Lichtschein ihn von der Straße aus verraten konnte. Er löschte die Lampe. Und zündete sie gleich darauf wieder an, denn ihm war eingefallen, dass er für das, was er vorhatte, Licht brauchte – sofort, ohne jede Verzögerung, wenn es so weit war. Also verbarg er die hell leuchtende Laterne unter seinem Gehrock. Er war sehr nervös. Es war die Nacht, in der sich alles entscheiden sollte. Nicht zuletzt seine gesamte Zukunft – und die Alenas.
    Abraham hielt es nicht mehr in seiner Ecke. Er ging hinüber zu Pentzlin und setzte sich zu ihm auf den Bettrand. Seine Bewegungen waren steif wegen der verräterischen Laterne. Dennoch schimmerte etwas Licht durch die Spalten seines Rocks und fiel auf den friedlich schlafenden jungen Mann. Abraham dachte, dass auch er einmal so jung gewesen war, damals, vor einer halben Ewigkeit. Bilder tauchten vor seinen Augen auf, gute und schlechte, und er versuchte, sich auf die guten zu besinnen, denn er wollte nicht an die Ungerechtigkeiten denken, die ihm seinerzeit widerfahren waren. Sie würden ihn nur zornig machen, und Zorn war ein schlechter Ratgeber, wenn man einen kühlen Kopf brauchte.
    Er stand auf und schritt zum Fenster. Fahles Mondlicht lag wie ein Tuch über der Stadt. Das nächtliche Göttingen war wie ausgestorben. Kein Mensch belebte mehr die Gassen und Plätze. Das Geismartor war verwaist, als hätte niemand es jemals passiert. Er wandte sich ab und begann, ruhelos hin und her zu wandern. Gern hätte er dabei die Hände auf dem Rücken gefaltet, wie Professor Richter es immer tat, doch er musste die Laterne halten. Richter … ihm hatte er viel zu verdanken. Wie würde der Professor nach dieser Nacht zu ihm stehen? Wie würden Runde, der Prorektor, und die vielen anderen honorigen Herren sich verhalten?
    Er musste die Sache unbedingt hinter sich bringen. Nicht nur irgendwie, sondern erfolgreich. Und endgültig. Allein schon um Alenas willen. Er hatte sie die letzten Tage nicht mehr gesehen. Wie lange genau eigentlich? Viel zu lange jedenfalls. Sie war das Wertvollste, was er auf der Welt besaß – wertvoller sogar noch als seine Puppen. Und er sehnte sich nach ihr mit jeder Faser seines Herzens. Sie war die einzige Frau, die er liebte, sie bedeutete ihm mehr als jede andere Frau auf der Welt – auch mehr als Henrietta. Wie gut diese Erkenntnis tat! Warum nur war er nicht früher darauf gekommen …
    Wie spät mochte es sein? Er fragte sich, ob er hinüber in seine Stube gehen sollte, denn darin befand sich Doktor Stromeyers Uhr. Doch dann unterließ er es. Er konnte seinen Posten nicht verlassen, er musste jederzeit bereit sein. Bereit? Wofür eigentlich? Was konnte, was wollte er tun, wenn es so weit war?
    Doch würde es überhaupt so weit kommen? Was war, wenn der Unbekannte nicht wieder auftauchte? Wenn er es sich anders überlegt hatte?
    Das durfte nicht sein! Das durfte einfach nicht sein, denn sonst … Halt! Er glaubte, ein Geräusch gehört zu haben. Ein ganz leises »Tock«. Oder hatte ihm die Fantasie einen Streich gespielt? Er lauschte so angespannt, dass er sein Blut in den Ohren rauschen hörte und schon glaubte, sich geirrt zu haben, als das »Tock« abermals erklang. Diesmal hatte er sich nicht getäuscht.
    Die Schattengestalt nahte!
    Abraham stellte sich hinter den Instrumentenschrank und überzeugte sich nochmals, dass sein Rock vollständig das Licht der Laterne abdeckte.
    Wieder ein »Tock«, gefolgt von einem langsamen »Tock, Tock, Tock«! Der Erwartete schien es nicht eilig zu haben. Vielleicht war er auch besonders vorsichtig, nachdem er ein- oder zweimal nur um Haaresbreite aus dem Hospiz hatte entwischen können.
    Jetzt! Die Tür öffnete sich leise. Abraham ahnte es mehr, als dass er es hörte. Dann spürte er einen schwachen Luftzug, während sein Herz wie ein Rammbock zu schlagen begann. Er sah einen Schatten an sich vorbeigleiten und auf Pentzlins Bett zugehen.

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