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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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Erdloch wird dein Sarg sein, es sei denn, ich überlege es mir anders. Aber das dürfte kaum der Fall sein. Mach dir nichts daraus. Du hast ja deinen lieben Gott. Bete nur schön zu ihm, dann hilft er dir vielleicht. Aber versprich dir nicht zu viel davon, denn es gab eine Zeit, da auch ich zu ihm gebetet habe, doch ich bin bitter enttäuscht worden.«
    »Nein!«, schrie Alena. »Nein!« Ihre Beherrschung, die sie die ganze Zeit mühsam aufrechterhalten hatte, war dahin. »Nein, nein, nein! Das könnt Ihr nicht tun. Bitte, habt ein Einsehen! Bitte!«
    »
Adieu,
Frau Scharlatan.«
    »Halt!« Alena suchte verzweifelt nach einem Grund, das Unvermeidliche aufzuhalten. In ihrer Not begann sie zu singen. Sie wusste nicht, was sie auf dieses merkwürdige Gebaren gebracht hatte, doch die Worte und die Melodie kamen ihr wie von selbst über die Lippen, und sie sang dem Verrückten mitten ins Gesicht:
    »Die Sünden sind vergeben!
    Das ist ein Wort zum Leben
    für den gequälten Geist;
    sie sind’s in Jesu Namen,
    in dem ist Ja und Amen,
    was Gott uns Sündern je verheißt.«
    Der Verrückte starrte sie mit offenem Mund an, als wäre nicht er, sondern Alena von Sinnen.
    »Das ist auch dir geschrieben,
    auch dich umfasst sein Lieben,
    weil Gott die Welt geliebt;
    auch du kannst für die Sünden
    bei Gott noch Gnade finden;
    ich glaube, dass er dir vergibt …«
    »Mach nur so weiter, Schlange!« Der Verrückte hatte sich wieder gefangen. »Aber du wirst nur noch die Wände ansingen, denn ich verschwinde jetzt.«
    »Nein!« Alena streckte ihm flehend die gefesselten Hände entgegen. »Bitte, bitte, nein!«
    »Adieu.«
    »Ihr … Ihr habt mir noch gar nicht erzählt, wie lange Ihr schon in dieser Erdhütte lebt. Es muss doch eine gewaltige Arbeit gewesen sein, sie zu bauen. Warum habt Ihr das getan?«
    »Zum letzten Mal:
adieu

    »Wartet! Es hängt dort so vieles an den Wänden, ich glaube, Ihr lebt schon eine ganze Weile hier. Auch die helle Asche am Boden deutet darauf hin. Bestimmt ist das Eure Feuerstelle. Seid Ihr sehr einsam? Bestimmt seid Ihr das. Es muss schrecklich sein, immer allein zu sein und immer allein essen zu müssen. Hattet Ihr manchmal Fisch? Ich sehe da eine Angelrute hängen. Gibt es Fische in den Bächen? Barben, Äschen, Gründlinge? Oder Forellen? Forellen sind sehr schmackhaft, nur die vielen Gräten sind lästig. Man muss sie sehr vorsichtig filetieren. Ich habe in Köln eine entfernte Verwandte, Johanna mit Namen, die sich an einer Forellengräte verschluckte und daran fast …«
    »Genug!«
    »Sie war eine geborene …«
    »Genug, sagte ich! Dein Geschwätz wird mich nicht davon abhalten, jetzt zu verschwinden. Es ist Zeit für mich, höchste Zeit.«
    »Zeit, wofür? Sagt es mir! Wie könnt Ihr wissen, dass es Zeit ist, Ihr habt doch keine Uhr?«
    »Ich sehe es an der Stellung des Mondes.«
    »Ihr seht es an der Stellung des Mondes? Das heißt, Ihr kennt die Bahnen, die der Mond am nächtlichen Himmel zieht? Ihr müsst ein gelehrter Mann sein. Ich wusste es. Ihr seid ein Studierter, stimmt’s? Ist jener Doktorhut der Eure?«
    »Du fragst viel, Schlange. Nun, diese eine Antwort will ich dir noch geben: Ja, es ist mein Doktorhut. Ich habe ihn all die Jahre in Ehren gehalten. Er ist das Einzige von Wert, das ich noch habe – und das Einzige, was mir noch etwas bedeutet. Neben meiner Rache.«
    »Also seid Ihr promoviert?«
    »Das bin ich.«
    »Und Euer Name?«
    »
Adieu,
Frau Scharlatan.«
    »Ihr sagtet, ich solle Euch Nemo nennen, Nemo wie Niemand. Oder auch Nemorensus wie Der-zum-Wald-Gehörige. Aber Ihr seid weder ein Niemand, noch gehört Ihr in diesen Wald. Ihr seid ein gelehrter Mann, ein Mann der Stadt!«
    Der Verrückte setzte sein Holzbein auf die unterste Sprosse der Leiter und machte noch einmal halt. In seinen Augen glitzerte es.
    »Euer Name? Sagt ihn mir!«
    »Doktor Arminius Pesus.«

[home]
    Von dannen Er kommen wird,
zu richten
die Lebendigen und die …
    A braham hatte sich im Patientensaal neben dem Instrumentenschrank postiert und kam sich vor wie ein einsamer Wachsoldat. Er wusste nicht, wie lange er warten musste, aber er war fest entschlossen, die Sache bis zum Ende durchzustehen, auch wenn Geduld nicht unbedingt etwas war, das zu seinen Stärken zählte. Alles brauchte eben seine Zeit. Wie hatte Professor Lichtenberg neulich beim
Schnaps-Conradi
so treffend gesagt: Die Leute, die niemals Zeit haben, tun am wenigsten.
    Abraham hoffte inständig, dass das, was er tat,

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