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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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Austern, Kraftbrühe mit Schinkenklößchen, garnierter Kalbsrücken, Wildschweinskopf, gefüllte Hamburger Gans, Rindfleischbraten, Peitzer Karpfen, Früchte, Salate, Haselnusstorte, Käsestangen und zum Nachtisch Gefrorenes, um nur eine der vielen Speisenfolgen zu nennen. Dazu wurden Dutzende, wenn nicht Hunderte von
Bouteillen
Champagner getrunken, Fässer mit feinstem Rheinwein geleert, Tresterschnäpse zur Verdauung gereicht. Welch eine Völlerei! Manche dieser Feste dauerten Tage, und jedes einzelne kostete ein Vermögen. So trugen meine Brüder zum Niedergang unseres Bankhauses bei – und damit auch zum Freitod meines Vaters. Heute arbeiten sie in der Bank von Vaters größtem Konkurrenten als unbedeutende Schreiberlinge. Verkehrte Welt.«
    Der Verrückte hatte die Augen geschlossen. Er schien eingeschlafen zu sein.
    Alena fuhr fort zu reden, damit der eintönige Klang ihrer Worte ihn weiter einlullte. »Meine Mutter starb bald nach Vaters Tod, das war zu einem Zeitpunkt, als ich schon im Kloster war. Meiner Schwester fiel die undankbare Aufgabe zu, den Haushalt der Familie aufzulösen und das wenige, was an Werten übrig geblieben war, unter den Geschwistern zu verteilen. Ich gab die eine Hälfte meines Anteils dem Kloster, die andere an meine Schwester zurück, denn sie ist sehr krank und braucht stets ärztliche Hilfe. Von Geburt an leidet sie unter einem Schiefhals, einem
Torticollis spasticus,
wie die Mediziner sagen. Sie nahm Arzneien gegen die Schmerzen ein und versuchte, das Leiden durch gymnastische Übungen zu lindern. Als alles nichts half, ließ sie sich im Jahre siebenundsiebzig operieren. Ein Chirurgus durchtrennte einige Muskeln …«
    »Hör auf, hör auf!« Der Verrückte hatte die Augen geöffnet und starrte sie wütend an.
    »Verzeiht. Ich … ich wollte Euch nicht reizen. Es ist nur, weil Ihr gefragt hattet, wer ich sei.«
    »Von mir aus erzähl weiter.«
    »Jedenfalls geht es meiner Schwester sehr schlecht. Ich schließe sie jeden Tag in meine Gebete ein.«
    »Fang nicht schon wieder mit dem bigotten Zeug an, Schlange!«
    Alena beschloss, einen Vorstoß zu wagen. »Ihr seid ein verbitterter Mann. Warum Ihr so seid und warum das Leben Euch so übel mitgespielt hat, weiß ich nicht, aber ich werde auch für Euch beten.«
    »Lass das! Niemals!«
    »Ich habe schon für unzählige Menschen gebetet, überall im Königreich Preußen, auf vielen Wanderungen in Thüringen, Sachsen, Brandenburg und auch in Potsdam. Und nahezu immer ist es mir gelungen, Frieden in die Herzen der Trauernden zu tragen und ihre armen, verletzten, geschundenen Seelen zu trösten.«
    »Davon will ich nichts hören. Erzähle von dem Scharlatan. Wie kommt er dazu, Bergleute in Richters Hospital zu behandeln?«
    »Ihr wisst sehr viel. Woher?«
    Der Verrückte lachte sein höhnisches Lachen. »Ich sagte bereits, dass ich sehr viel weiß. Woher, das tut nichts zur Sache. Obwohl ich es dir verraten könnte, denn du wirst niemals Gelegenheit haben, darüber zu reden.«
    Ein Schauer lief Alena den Rücken hinunter. Sie hatte gehofft, den unheimlichen Mann, der mit Nemo oder Nemorensus angesprochen werden wollte, ein wenig beschwichtigt zu haben, nun aber zeigte sich, dass all ihre Bemühungen umsonst gewesen waren. Doch sie wollte nicht aufgeben. Sie sagte: »Abraham hat ein Medizinstudium angefangen, weil er sich diesen Wunsch erfüllen wollte. Im Rahmen des Studiums fiel ihm die Aufgabe zu, Bergleute in Richters Hospital zu behandeln. Aber er hat nicht nur Bergleute in seiner Obhut, auch andere Patienten, Männer, Frauen, Kinder. Jeder, der ein Gebrechen hat, kann zu ihm gehen.«
    »Er ist für ein Studium viel zu alt. Er hätte weiter mit seinen Puppen spielen und dümmliche Witze erzählen sollen. Wie ein alberner Narr. Warum hat er die Figuren überhaupt angeschafft?«
    »Sie sind ein Teil seines Lebens. Jede für sich.«
    »Willst du damit sagen, dass er irgendwann einmal als Bauer gearbeitet hat? Oder als Matrose?«
    »Ja, genauso ist es.«
    »Hahaha!« Der Verrückte heulte auf vor Lachen. »Hoho, haha, das ist gut, das gefällt mir, der Scharlatan ein Bauer und Matrose!«
    »Was ist daran so komisch?«
    »Nichts, nichts. Haha, hoho!« Abrupt endete das Lachen. Der Verrückte stand auf. »Es ist jetzt Zeit, dich allein zu lassen. Für immer. Schau dich noch einmal um, denn es wird das letzte Mal sein, dass deine Augen Licht erblicken. Ich werde die Laterne mitnehmen und die Falltür über dir schließen. Dieses

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