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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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das ist es, was gezielte Hiebe herzustellen vermögen, selbst wenn sie einen selber schmerzen.«
    Abraham verzichtete auf eine Entgegnung. Wenn überhaupt möglich, wurde ihm der Mann noch unheimlicher.
    »In meiner Not ging ich nach Prag, wo ich dank alter Verbindungen einen Lehrstuhl an der Karls-Universität bekam. Hier fragte man nicht nach meiner Vergangenheit, hier glaubte man mir, als ich sagte, an dem Gerede in Göttingen sei nichts dran, nur Neider und Eiferer hätten sich das Maul zerrissen. Lange Zeit arbeitete ich dort, und ich war glücklich. Man achtete, ja, man liebte mich. Wie groß die Anerkennung war, die mir zuteil wurde, erfuhr ich spätestens an dem Tag, als ich auf dem Loretoplatz von einer heranpreschenden Kutsche angefahren wurde und mir daraufhin das Bein amputiert werden musste. Ein solches Ausmaß an Anteilnahme hätte ich nie für möglich gehalten! Es war mein geschätzter Kollege Professor Bartolom ĕ j Holý, der es sich nicht nehmen ließ, den Eingriff kunstvoll durchzuführen. Er tat es unter Verwendung eines Schlafschwamms, wodurch ich nur erträgliche Schmerzen leiden musste. Ich werde Holý ewig dankbar sein. Und nicht nur ihm: Auch den Professoren Matej Rab č ek und Vojtech Beneš und den vielen anderen. Sie suchten meine Nähe und schätzten meinen Rat – ganz im Gegensatz zu dem, was ich zuvor an der Georgia Augusta erleben musste.«
    Die letzten Sätze Tatzels verrieten Abraham, wie maßlos geltungsbedürftig, selbstsüchtig und eitel sein Gegenüber sein musste, und er verstand zum ersten Mal, warum der Mann bar jeder Normalität reagierte. Doch er hütete sich, das anzusprechen.
    »Ach, es waren goldene Jahre im Goldenen Prag! Doch trotz alledem: Mit jedem Semester, das verstrich, fehlte mir die Heimat mehr. Es zog mich zurück nach Göttingen, in meine alte Vaterstadt. Hier wollte ich die letzten Jahre meines Lebens verbringen – in der Gewissheit, über die Geschichte von damals wäre längst Gras gewachsen. Doch wie bitter sollte ich mich getäuscht haben, denn kaum war ich zurück, holte die Vergangenheit mich ein. Ich wurde Zeuge einer Puppenvorstellung am Albaner Tor. Erst lachte ich ein paar Male über die schwachen Witze, doch dann, als fast alle Zuschauer sich entfernt hatten, erkannte ich in dem Puppenspieler dich, den Verursacher meines Unglücks.«
    »Wärst du doch nach Prag zurückgegangen!«, stieß Abraham hervor. »Niemand hätte dich hier vermisst.«
    »Von da an war es mit meiner Ruhe vorbei. Ich forschte behutsam nach und fand heraus, dass du unter falschem Namen abermals wieder Medizin studiertest. Julius Abraham nanntest du dich, und ich beschloss, spät, aber nicht zu spät, der Gerechtigkeit Genüge zu tun. Dazu musste ich dich beseitigen. Da ich nicht an die Öffentlichkeit gehen konnte, ohne mir selbst zu schaden, musste ich mir eine andere Form der Vernichtung einfallen lassen. Ich fand sie – indem ich die in deiner Obhut stehenden Kranken tötete.«
    »Du Bestie, du verrückte Bestie!«
    Tatzel schien Abraham nicht zu hören. Er schwieg, während er anscheinend interesselos das Leben aus seinem Körper rinnen sah. Doch dann blickte er auf und sagte mit schwächer werdender Stimme: »Bevor ich dich mit dem Skalpell, das du mir damals in deiner tückischen Art angereicht hast, töte, sollst du noch wissen, dass ich heute etwas getan habe, das ich schon lange hätte tun sollen: Ich habe einen Brief an den Prorektor geschrieben, aus dem hervorgeht, wer du in Wahrheit bist. Julius Klingenthal bist du. Ein kleiner dummer
Bursche
damals – und ein großer dummer Puppenspieler heute. Zum Arzt wirst du es niemals bringen, allein, weil ich deinem Leben jetzt ein Ende setzen werde.«
    Tatzel schickte sich an, zu Abraham hinüberzukriechen, aber dieser rief: »Bleib, wo du bist! Wie willst du mir mit dem Brief an den Prorektor schaden, wenn du mich vorher tötest? Hast du dir das überlegt?« In Abrahams Worten schwang Todesangst mit, doch er schämte sich nicht dafür. Irgendwie musste es ihm gelingen, den Verrückten von seinem Vorhaben abzubringen.
    In der Tat hielt Tatzel für einen Moment inne. Doch dann huschte ein Lächeln über das Spinnennetz seiner Gesichtszüge, und er sagte: »Es ist eine schöne Verheißung für mich, dir über deinen Tod hinaus zu schaden. Dein Ruf als der Musterstudent Abraham wird zerstört sein. Du wirst als Scharlatan und Betrüger in die Annalen der Georgia Augusta eingehen.« Er kicherte. »Als Scharlatan und

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