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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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Ihr den unglückseligen Schnitt.«
    »Niemals!«
    »Lasst das Gefuchtele mit dem Skalpell. Ich höre Schritte auf der Treppe. Das muss Hasselbrinck, der Krankenwärter, sein. Ergebt Euch! Gegen zwei Männer habt Ihr in jedem Fall das Nachsehen.«
    »Nun gut.« So leidenschaftlich Tatzel bis eben gekämpft hatte, so plötzlich schien er aufgeben zu wollen. »Vielleicht habt Ihr recht.« Er ging zur Tür, und Abraham folgte ihm dichtauf. Und genau das war sein zweiter Fehler an diesem Abend, denn Tatzel riss mit einem Ruck das Türblatt auf und schmetterte es ihm gegen den Kopf. Abraham taumelte zurück, was Tatzel dazu nutzte, ihm brutal sein Holzbein gegen die Schläfe zu rammen. Das war zu viel. Abraham wurde schwarz vor Augen, und er krachte wie ein Baum zu Boden.
    Als er wieder zu sich kam – er glaubte, nur wenige Sekunden bewusstlos gewesen zu sein –, sah er Tatzel in ein heftiges Handgemenge verwickelt. Aber nicht mit Hasselbrinck, sondern mit – Heinrich! Heinrich? Natürlich, schoss es durch Abrahams benebelten Kopf, Hasselbrinck konnte es gar nicht sein, denn der alte Krankenwärter hatte an diesem Abend sein jährliches Treffen mit den Veteranen des Mündener Infanterieregiments. »Heinrich!«, schrie er, »Heinrich, gib acht, der Kerl hat ein Skalpell!«
    Heinrich antwortete nicht, er lag am Boden und kämpfte verzweifelt gegen den blindwütigen Tatzel, indem er kratzte, trat und biss, ohne auch nur im Entferntesten Rücksicht auf sein feines
Habit
zu nehmen.
    »Gib acht!« Abraham musste alle Kraft zusammennehmen, um halbwegs wieder auf die Beine zu kommen. Er wollte sich auf seinen Widersacher stürzen, doch die Knie waren ihm noch weich.
    In diesem Augenblick schrie Tatzel: »Rührt Euch nicht vom Fleck, oder ich bringe den
Burschen
um!« Es war ihm gelungen, Heinrich zu überwältigen. Er hielt ihn von hinten gepackt und setzte ihm das Skalpell an die Kehle. Es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass er seine Drohung wahrmachen würde.
    Um Zeit zu gewinnen, rief Abraham: »Das bringt Ihr nicht fertig! Der
Bursche
ist unschuldig. Er hat mit Euch nichts zu schaffen.«
    Tatzel lachte triumphierend. »Ich bringe noch ganz andere Dinge fertig. Und jetzt werdet Ihr genau das tun, was ich Euch sage: Ihr werdet die Verbände aus dem umgefallenen Schrank nehmen und Euch damit selbst die Füße fesseln. Aber ganz eng, wenn ich bitten darf.«
    Abraham sah, dass jeglicher Widerstand zwecklos war. Er musste sich in das Unvermeidliche fügen, wollte er nicht Heinrichs Leben aufs Spiel setzen. Er gehorchte. Während er sich selbst band, sagte er mit möglichst fester Stimme: »Hab keine Angst, Heinrich. Ich werde dafür sorgen, dass dieser Spuk bald ein Ende nimmt.« Und innerlich fügte er hinzu: O Erhabener, Deine Allmacht sei gepriesen, mach, dass meine Worte keine leere Phrase sind. Hilf mir, gib mir einen Wink, wie ich mit diesem Scheusal fertig werde.
    »Noch enger, noch enger! Ja, so ist’s recht, warum nicht gleich so. Und nun, da Ihr nicht mehr gehen könnt, werdet Ihr dafür sorgen, dass Ihr nicht einmal mehr zu kriechen vermögt. Bindet Eure gefesselten Füße an eines der Türscharniere des Schranks und macht einen chirurgischen Knoten, der nicht aufgeht. Oder könnt Ihr nicht einmal das, Scharlatan?«
    Abraham musste notgedrungen gehorchen, auch wenn Heinrich mühsam hervorstieß, er solle sich nicht um ihn kümmern. Welch seltsame, bizarre Situation! Da hatte er über drei Jahre lang alle Handfertigkeiten der Medizin studiert, nur um sich jetzt mit ihrer Hilfe selbst zu lähmen.
    Alles schien verloren zu sein, doch dann, unverhofft, nahm Heinrich all seine Kraft zusammen und trat Tatzel mit voller Wucht gegen das Knie, an dem das Holzbein befestigt war. Tatzel heulte auf vor Schmerz, seine Hand verlor die Kontrolle, und das Skalpell schnitt tief in Heinrichs Hals ein. Blut quoll augenblicklich aus der Wunde hervor, Heinrich gab einen gutturalen Laut von sich, seine Augen weiteten sich vor Angst und vor Schmerz. Sein Kopf sank zur Seite, die braune Perücke löste sich und gab eine Flut blonder Haare frei.
    Abraham stammelte: »Heinrich, Henrietta …«
    Henrietta lächelte mühsam, während das Blut weiter aus ihrer Halswunde troff.
    »So tut doch etwas!«, fuhr Abraham Tatzel an. »Sitzt nicht da und glotzt, unternehmt etwas. Nutzt meine Verbände, um die Wunde zu versorgen, die Frau verblutet doch sonst! Tut etwas, ich bitte Euch inständig!«
    »Ich denke nicht daran. Eher geht in der

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