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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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Abraham hielt den Atem an.
    Eine Weile stand die Gestalt in gebückter Haltung über dem jungen Bergmann. Dann kam wieder Leben in sie. Arme tasteten sich zum Kopf des Patienten vor, umfassten ihn und begannen langsam, ihn zur Seite zu drehen.
    Entschlossen riss Abraham seinen Rock auf. Helles Licht schoss in den Raum. Mit zwei, drei großen Schritten war er bei dem Eindringling und hielt ihm die Lampe direkt vors Gesicht. »Ihr also seid es, der Burck und Gottwald auf dem Gewissen hat!«, donnerte er. »Was immer Euch dazu bewogen haben mag, aber an dem armen Pentzlin werdet Ihr Euch nicht mehr vergreifen!«
    Der Eindringling fuhr geblendet zurück.
    Abraham rief mit unverminderter Lautstärke: »Ja, Ihr seid es tatsächlich! Lange habe ich gegrübelt, wer für die ruchlosen Morde in Frage käme, und erst sehr spät bin ich auf Euch gekommen, Herr Doktor Arminius Pesus!«
    »Sehr spät?« Der andere hatte sich gefangen. Er lachte höhnisch und offenbarte dabei Gesichtszüge voller Hass. »Zu spät! Denn heute werde ich Euch vernichten!«
    »Ihr seid der Autor des Werks
De caputitis aspera et venae,
und Euer wirklicher Name ist – Hermannus Tatzel! Ehemaliger Professor der Chirurgie an der Georgia Augusta! Ihr seid derjenige, dem ich es zu verdanken habe, als junger
Bursche
mit Schimpf und Schande von der Universität gejagt worden zu sein. Ihr habt Euch nicht verändert, die Tücke in Eurem Gesicht ist noch dieselbe wie damals, auch wenn Ihr zeitweilig Euren Namen latinisiert habt und als Arminius Pesus aufgetreten seid.
Pesus
wie Fuß, Pfote oder – Tatze! Aber nun hat es ein Ende mit Euren Greueltaten. Ich werde Euch dem Universitätsgericht überantworten, auf dass Ihr Eure gerechte Strafe bekommt!«
    Tatzel lachte abermals höhnisch. »
Echauffirt
Euch nicht unnötig. Und glaubt ja nicht, ich hätte nicht mit Euch gerechnet. Früher oder später musste es zum Zusammenstoß zwischen uns kommen. Doch ein kleiner nichtsnutziger Scharlatan wie Ihr wird mich nicht aufhalten! Schon deshalb, weil ich nicht allein bin.« Tatzel wies zur Tür, und Abraham ließ sich für den Bruchteil eines Augenblicks ablenken. Er fiel auf die Finte herein, und Tatzel stürzte vor. Mit großer Wucht warf er sich auf Abraham und riss ihn um. Die Laterne fiel scheppernd zu Boden und brannte wie durch ein Wunder weiter. Sie beleuchtete zwei erbittert miteinander kämpfende Männer, ein Knäuel aus Armen, Beinen und Köpfen, das wie ein wild gewordener Muskel zuckte. Doch Tatzel hatte das Überraschungsmoment auf seiner Seite, weshalb es ihm gelang, Abraham niederzuringen und ihm mit aller Kraft die Kehle zuzudrücken.
    Abraham versuchte verzweifelt, seinen Hals zu befreien, doch Tatzels Hände waren wie Klauen, sie hielten eisern fest. Abraham wurde die Luft knapp, er ruderte mit den Armen, bäumte sich auf, stieß mit den Beinen in die Luft. Immer hektischer wurden seine Bewegungen, und er dachte schon, sein letztes Stündlein habe geschlagen, als der Schrank plötzlich einen Stoß abbekam. Das schwere Möbel fiel auf die Kampfhähne hernieder, die Türen sprangen auf, ein Strom aus blitzenden Instrumenten ergoss sich über sie.
    Tatzel war durch das Gewicht des Schranks beiseitegeschleudert worden und hatte wohl oder übel loslassen müssen, doch er fing sich als Erster, ergriff eines der Skalpelle und ging damit auf den noch immer halb benommenen Abraham los. Dieser konnte im letzten Augenblick dem tückischen Stoß ausweichen. Er rappelte sich auf, sprang einen Schritt zurück und war fürs Erste außer Reichweite der mörderischen Klinge.
    Tatzel keuchte. Er war ein alter Mann, dem sein Hass übermenschliche Kräfte verlieh. Wieder stieß er zu und zischte: »Das ist eines der Skalpelle, wie Ihr es mir damals bei der Operation angereicht habt, ein viel zu großes. Es ist nur recht und billig, dass Ihr damit den Todesstoß empfangt!«
    Abraham entging nur knapp der Attacke. »Ihr selbst habt danach verlangt. Ich habe sogar noch gefragt, ob es nicht eines mit kleinerem Heft sein soll.«
    »Niemals habt ihr das gefragt! Ein dummer
Studiosus,
ein Scharlatan wie Ihr, hätte das niemals gefragt!« Wieder stieß Tatzel zu, und wieder ging sein Stoß ins Leere.
    »O doch, aber ihr wart so in Eurer Selbstgefälligkeit gefangen, dass es einem Sakrileg gleichkam, Eure Entscheidung in Frage zu stellen. Ihr habt mich keines Blickes gewürdigt und mir das Messer aus der Hand genommen. Ich weiß es, als wäre es gestern gewesen. Und dann tatet

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