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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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Hölle das Feuer aus, als dass ich dir, Scharlatan, eine Bitte erfüllen würde.« Tatzel redete von der Hölle, aber seine Stimme war kalt wie Eis. »Wenn die Frau stirbt, ist es allein deine Schuld.«
    »Henrietta!«, rief Abraham, »beim Allmächtigen, wie konntest du nur herkommen. Warum nur, warum?«
    Henrietta lächelte mühsam, ihre Stimme war nur ein Flüstern. »Ich … ich musste keine Hellseherin sein … um mir zusammenzureimen, dass heute Nacht die Schattengestalt zurückkommen würde …« Sie machte erschöpft eine Pause. »Ich habe dir doch nur helfen wollen, nur helfen … Aber das ist mir nun gründlich misslungen.« Sie lächelte wehmütig. »Verzeih mir, mein Liebster, verzeih mir …«
    »Nein, verzeih du mir. Es ist alles meine Schuld.« Abraham weinte fast. Und in seine namenlose Trauer angesichts seiner sterbenden Freundin mischte sich maßlose Wut auf Tatzel. »Du Ungeheuer!« stieß er hervor, »Du verfluchtes Ungeheuer! Es ist bereits das zweite Mal, dass durch dein Skalpell ein Mensch zu Tode kommt. Nur dass es diesmal noch viel schlimmer ist. Ich werde …«
    »Du wirst nichts, Scharlatan. Ich habe gegen einen Mann gekämpft und dabei eine Frau getötet. Das konnte ich nicht wissen. Warum die Frau in dieser Verkleidung auftrat, weiß ich nicht. Es interessiert mich auch nicht. Wahrscheinlich war sie deine Geliebte. Gewiss war sie deine Geliebte. Es ist bedauerlich, dass es passierte, doch die Schuld liegt bei dir.«
    »Du widerlicher, feiger Hundsfott!«
    Tatzel lachte und ließ Henriettas Kopf achtlos zu Boden gleiten. »Ich werde jetzt auch deinen dritten Bergmann töten. Eine kräftige Drehung des Kopfes, und schon nach wenigen Minuten wird es passiert sein. Dann werde ich dein Leben vernichten. Nichts anderes hast du verdient, denn auch mein Leben hast du vernichtet. Wie süß wird meine Rache sein!« Tatzel kicherte und wollte sich erheben, aber mitten in der Bewegung knickte er ein. Er fluchte, tastete sein Knie ab und musste feststellen, dass durch Henriettas Tritt die Verbindung zu seinem Holzbein zerstört war. Die Stütze war nichts mehr wert, ein nutzloser Gegenstand, der polternd auf die Dielen des Raumes fiel.
    »Ich bin gespannt, wie du nun fliehen willst.« Abraham gab sich keinerlei Mühe, die Ironie in seiner Stimme zu unterdrücken.
    Tatzel fluchte abermals gotteslästerlich. In seinem Gesicht arbeitete es. Seine Kiefermuskeln mahlten, sein Blick wurde starr. Dann huschte ein Lächeln über seine Züge. »Nun gut«, zischte er. »Es scheint, als würde ich diesen Ort nicht mehr verlassen können. Es ist egal. Es geht mir einzig und allein um meine Rache, und die werde ich bekommen.« Mit einer raschen Bewegung schnitt er sich die Pulsader am linken Handgelenk auf.
    »Was tust du?« Fassungslos starrte Abraham auf das herausrinnende Blut.
    »Ich nehme mir das Leben.«
    »Bist du völlig verrückt geworden?«
    »Nenn es, wie du willst, Scharlatan. Aber bevor ich mein Leben aushauche, wirst auch du sterben. Welch hübscher Gedanke.« Mit leuchtenden Augen betrachtete Tatzel den unablässigen Blutfluss aus seinem Handgelenk.
    Er ist tatsächlich verrückt, dachte Abraham verzweifelt. Wie groß muss der Rachedurst dieses Verblendeten sein, dass er sogar seinen eigenen Tod in Kauf nimmt? »Weshalb, um alles in der Welt, hasst du mich so?«, stieß er hervor.
    »Das fragst du noch? Durch deinen Fehler starb bei meiner Operation ein Mensch. Es war nur recht und billig, dass man dich der Universität verwies. Doch kurze Zeit danach geriet ich selbst in die Kritik. Wahrscheinlich hattest du hinter meinem Rücken dafür gesorgt. Der sogenannte ›tatsächliche Verlauf‹ der missglückten Operation kam heraus, und ich wurde ebenfalls der Lehranstalt verwiesen.«
    »Ist das wahr?« Abraham staunte.
    Tatzel ging nicht auf ihn ein. Es war, als spräche er zu sich selbst. »Welch entsetzliche Schande! Ich wusste nicht mehr ein noch aus. Die Kollegen mieden mich, die Leute auf der Straße tuschelten hinter meinem Rücken, und meine Ehe zerbrach, denn meine Frau wandte sich von mir ab. Meine Kinder wollten nichts mehr von mir wissen. Sie behaupteten zusammen mit ihrer Mutter, ich wäre von jeher ein aufbrausender, ungerechter Tyrann gewesen! Und das mir, der ich die Meinen stets mit meiner Liebe und Fürsorge umhegt hatte. Ja, das tat ich wahrhaftig! Und ich stehe heute noch dazu, dass zur Liebe auch Schläge gehören, harte Schläge, regelmäßig verabreicht! Zucht und Ordnung,

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