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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau
Autoren: Wolf Serno
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Keine blasse Ahnung, was die Witwe heute anschleppt.«
    Darüber sollte er nicht lange im Unklaren gelassen werden, denn in diesem Augenblick betrat die Vermieterin den Raum, einen mächtigen Schmortopf in den Händen. Ihr folgte auf dem Fuße Alena, die eine große Schüssel mit dampfenden Kartoffeln trug.
    »Stell die Schüssel nur auf den Tisch, Alena«, sagte die Witwe. »Hier bedient sich jeder selbst. Und bevor die jungen Herrn mir ein Loch in den Bauch fragen, sag ich’s lieber gleich: Im Schmortopf ist ein gutes Stück Schweineschulter, dazu Gemüse und Kräuter, alles so fein, dass ich euch eigentlich nur sonntags damit
regaliren
sollt. Komm, Franz, spiel mal den Hausherrn und zerteil das Fleisch.«
    »Jawohl, Mutter Vonnegut.« Franz sprang auf und gehorchte.
    »Und du, Alex, guck nicht so scheel, es ist genug für jeden da, auch wenn Alena und Julius mitessen.«
    »Jawohl, Mutter Vonnegut.«
    »Gottfried, räum die Suppenteller ab und leg dafür die flachen Teller aus. Und vergiss das Besteck nicht.«
    »Jawohl, Mutter Vonnegut.« Auch Gottfried tat ohne Widerrede sofort, was von ihm verlangt wurde. Es war ganz offenkundig so, dass die Witwe ein strenges Regiment führte.
    Durch das Gewusel um ihn herum aufgeschreckt, wollte Abraham seinen Teil beisteuern. Er stand auf und sagte: »Ich würde mich auch gern nützlich machen, kann ich noch etwas tun, Frau Vonnegut?«
    »Sag ruhig Mutter Vonnegut zu mir, das tun alle.« Die Witwe setzte sich, und Alena tat es ihr mit der größten Selbstverständlichkeit gleich. »Behalt nur Platz, Julius. Du hast das Glück, mit einer prächtigen Frau verheiratet zu sein, der vor der Arbeit nicht bang ist. Das ist mir gleich aufgefallen. Die eingebrannte Milch auf den Herdringen hat sie fixfax mit Zinnsand weggekriegt, und auch sonst ist sie sehr anstellig. Danke, Franz, nicht so viel Fleisch, nehmt lieber selber davon, ihr jungen Hüpfer. Ihr sollt ja noch wachsen. Ja, da guckst du, Julius, dass ich deine Frau so lobe, aber ich rede immer frei heraus, denn es muss von der Leber herunter. Alena ist kein
unebenes Ding,
wie wir in Frankfurt sagen, und deshalb kann sie hierbleiben. Und weil sie hierbleibt, bleibst du auch hier. Ihr bekommt die beiden Zimmer im oberen Stockwerk, die Miete beträgt wie üblich bei mir zehn Taler pro Semester, eigentlich zwanzig, weil ihr ja zu zweit seid, aber weil Alena mir in der Küche hilft, bleibt es bei zehn. Deinen Wagen kannst du gegenüber in der Brettergarage abstellen, und deine Puppen dürften oben in einem der beiden Zimmer genug Platz finden. Die Miete bis zum Monatsende gibst du mir anteilig, das Essensgeld auch, ansonsten könnt ihr sofort einziehen, Alena müsste sich nur aus dem Wäscheschrank bedienen, um die Betten zu beziehen. Leinwand und Leilachen sind frisch.«
    »Ja, äh …?«, krächzte Abraham.
    »Und ihr, ihr Burschen? Ihr seid doch einverstanden mit unseren neuen Mietern?«
    »Natürlich, Mutter Vonnegut!«
    »Das ist mir angenehm zu hören. Nanu, Julius, du sagst ja gar nichts? Hat’s dir die Sprache verschlagen? Jetzt, wo du aller Sorgen
quitt
bist?«
    »Äh, nein«, sagte Abraham. »Es kommt nur alles ein bisschen … vielen Dank, vielen Dank.«
     
     
    Am späten Vormittag des anderen Tags kam Abraham beschwingten Schrittes zurück in das Vonnegutsche Haus. Er lief schnurstracks in die Küche, wo er Alena vermutete. »Alena?«
    »Ja, Abraham?« Alena stand am Spülstein und säuberte Teller und Tassen vom Frühstück. Die Witwe war nicht da, sie hatte sich zurückgezogen.
    »Liebste, vor dir steht ein frischgebackener Medizinstudent!«
    »Heißt das, es hat mit der Immatrikulation geklappt?«
    »Du hast es erraten!«
    Alena gab einen undamenhaften Jauchzer von sich und fiel Abraham in die Arme. »Ich freue mich, ich freue mich so! Komm, erzähle mir alles.« Sie nahm Abraham bei der Hand und dirigierte ihn zum Küchentisch. »Ich habe frischen Kaffee gemacht. Es ist sogar echter, kein Zichorienpulver, möchtest du eine Tasse?«
    »Ja, gern.«
    Alena goss das heiße schwarze Getränk aus einer hochbeinigen Zinnkanne ein. »Und nun erzähle.«
    Abraham setzte sich und trank mit spitzen Lippen einen Schluck. »Tja, wo soll ich anfangen? Es war nicht wenig Papierkram, den es auszufüllen galt, bis ich meine fünf Taler für das kommende Semester bezahlen durfte. Ich kann mich gar nicht erinnern, dass es damals, als ich zum ersten Mal an der Georgia Augusta studierte, so kompliziert war. Überhaupt schien mir
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