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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau
Autoren: Wolf Serno
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seufzte. So bedrohlich das Leiden der Mutter grundsätzlich war, so geringfügig schien es immer dann zu sein, wenn ärztlicher Rat hinzugezogen werden sollte. »Ich mache Euch Wadenwickel.«
    »Nein, keine Wadenwickel.« Die Mutter fächelte sich heftig Luft zu.
    »Gut, dann hole ich Euch eine kalte Limonade.«
    »Danke, Kind, ich möchte nichts trinken.«
    »Ich lege Euch kalte Wasserbeutel auf die Leisten.«
    »Nur das nicht, bitte!«
    Henrietta seufzte abermals. »Habt Ihr denn Kopfweh?«
    »Nicht direkt, der Kopf ist mir nur heiß, als hätte jemand ein Herdfeuer darin entzündet.«
    »Ich fürchte, ich kann Euch nicht helfen.« Henrietta nahm der Mutter den Fächer ab und wedelte für sie weiter. »Denn abführende Mittel wollt Ihr sicher nicht, und zur Ader lassen kann ich Euch nicht. Ich bin kein Arzt.«
    Die Mutter antwortete nicht. Sie hatte die Augen geschlossen und schien die Kühle der Luft zu genießen.
    Henrietta wedelte stärker. »Aber ich möchte einer werden.«
    »Was möchtest du werden?« Die Mutter schien nicht zugehört zu haben.
    »Arzt. Ich möchte Medizin studieren.«
    »Kommst du mir schon wieder damit?«
    »Ich meine es ernst, Mutter.«
    »Frieda!« Die Mutter klingelte heftig mit einem Glöckchen. »Frieda!« Die Hausmagd erschien und knickste. »Frieda, da bist du ja endlich, ich lasse den Baron bitten, raschestmöglich zu mir zu kommen, beeil dich.«
    Frieda knickste abermals und enteilte.
    »Mutter, ich …«
    »Kein Wort, bevor dein Vater da ist!«
    Eine Weile verging, in der sich Mutter und Tochter anschwiegen, dann näherten sich Schritte. Georg Heinrich von Zarenthin, ein stattlicher Fünfziger mit fleischigem Gesicht und weißgepuderter Perücke, erschien. »Ah, meine beiden schönen Frauen!«, rief er leutselig. »Was ist so wichtig, dass es mich bei der Karteiführung meines Naturalienkabinetts unterbrechen darf?«
    »Deine Tochter will Medizin studieren«, sagte die Mutter, und es klang, als wolle Henrietta mit dem Teufel Unzucht treiben.
    Der Baron stutzte, riss die Augen auf und fing an zu lachen. »
Parbleu,
dann könnte Henrietta kostenlos die ganze Familie kurieren, dich zuallererst, meine Liebe, und das Vieh in den Ställen gleich mit. Hoho, das ist ein hübscher Scherz!«
    »Das ist kein Scherz«, sagte die Mutter säuerlich. »Seit Wochen liegt sie mir damit in den Ohren. Ich dachte immer, diese Hirngespinste würden sich von allein auflösen, aber das Gegenteil scheint der Fall zu sein.«
    »Es stimmt, Vater, es ist mein größter Wunsch, Medizin zu studieren.«
    »Unsinn.« Auf der Stirn des Barons entstand eine Falte. »Frieda, lass uns allein!« Als die Magd sich entfernt hatte, fuhr er fort: »Ich will dir sagen, was dein größter Wunsch ist: Dein größter Wunsch ist der, den alle jungen Mädchen haben – nämlich einen passablen jungen Mann zu heiraten, einen aus guter Familie, nach Möglichkeit mit hübschem
monetairem
Polster.«
    »Es ist mir ernst, Vater.«
    »Das mag sein, aber dein Platz ist hier. Im Übrigen braucht dich deine Mutter.«
    »Vater, bitte!« Henrietta warf den Fächer achtlos auf die Fensterbank. »Du weißt selbst, dass Mutter mich nicht braucht. Was ich tue, kann jede Aufwärterin auch tun. Jede Magd, jeder Diener, jeder Knecht, jeder Stalljunge, sogar Madame Brossér, unsere
Coiffeuse,
obwohl die natürlich viel zu vornehm dafür ist. Es gehört kein großes Geschick dazu, Wadenwickel zu machen, Weidenrindentee zu kochen und kalte Getränke bereitzustellen.«
    »Deine Mutter leidet an gefährlichem Fieber.«
    »An welchem denn? Es gibt hunderterlei Arten von Fieber: kaltes Fieber, Entzündungsfieber, Gallenfieber, Fleckfieber, Faulfieber, Fieselfieber, Fünftagefieber, Drüsenfieber, Wechselfieber, Brustfieber, Kopffieber, Wundfieber … ein Arzt könnte die Aufzählung beliebig fortsetzen, aber seltsamerweise will Mutter keinen Arzt, sie will immer nur mich.«
    »Wie redest du über deine Mutter? Versündige dich nicht.«
    »Verzeih, aber ich bin verzweifelt. Ich möchte nur das, was Dorothea von Schlözer auch durfte.« Henrietta begann zu weinen, nicht ohne Absicht, denn sie wusste, wie weichherzig ihr Vater auf die Tränen seiner Tochter reagierte.
    »Schlözer?« Der Baron überlegte. »Ist das nicht dieser Geschichtsprofessor?«
    »Das ist er, Vater. Seine Tochter hat vor zwei Jahren an der Georgia Augusta promoviert, es war anlässlich des fünfzigjährigen Bestehens der Universität. Sie hat mit Auszeichnung bestanden, hat
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