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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau
Autoren: Wolf Serno
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gestattete sich ein Grinsen. »Wenn ich mich recht entsinne, war es bei mir auch so.«
    Die Witwe lachte. »Ich seh, wir verstehen uns. Aber das wusste ich ja schon gestern. Hat wenigstens sonst alles geklappt?«
    »Ja, ich bin in der Matrikel, mit Namen und Nummer, wie sich’s gehört.«
    »Fein.« Die Witwe erhob sich, ging mit schweren Schritten an den Küchenschrank und kam mit einer bauchigen braunen Flasche zurück. Sie stellte die Flasche ab und holte dazu drei Gläser.
    »Was soll das werden, Mutter Vonnegut?«, fragte Alena.
    »Ich spendiere ein Liqueurchen. Es ist zwar noch früh, aber der Anlass heiligt die Mittel.« Die Witwe schenkte drei Gläser voll und verteilte sie. »Prosit, auf dich und dein Studium, Julius! Und auch auf dich, Alena!«
    »Prosit, Mutter Vonnegut.«
    »Prosit, Mutter Vonnegut.«
    »Nun ist alles gut, und die Nägel stecken fest.«

[home]
    Von …
    H enrietta! Henrietta, wo steckst du nur? Mir ist schon wieder siedend heiß, und die Sinne wollen mir schwinden.«
    »Ich bin hier, Mutter, ich komme.« Die junge Frau, deren Zimmer dreißig Schritt entfernt im anderen Flügel des Gutshauses lag, klappte ihr Buch zu und sprang auf. Es war nichts Neues, dass die Mutter nach ihr rief, denn das tat sie mehr als ein Dutzend Mal am Tag, und ebenso wenig neu war der Grund dafür: Die Baronin Auguste Catharina von Zarenthin litt an einem unerklärlichen Fieber, dessen wütende, immer wiederkehrende Hitze sie derart schwächte, dass sie an den Rollstuhl gefesselt war.
    Bevor Henrietta ihr Mädchenzimmer verließ, machte sie rasch vor dem großen Spiegel halt, denn wie stets hatte sie es sich bei ihrer Lektüre bequem gemacht und sich der Länge nach aufs Bett geworfen – ihre Lieblingsposition, wenn sie in medizinischen Werken schmökerte. Ein prüfender Blick sagte ihr, dass der Reifrock aus grünem Atlas ein wenig schief saß und gerichtet werden musste, was aber mit ein, zwei Handgriffen zu erledigen war. Als schlimmer erwies sich, dass auch ihre
Hedgehog-Coiffure
nicht mehr perfekt saß. Henrietta zupfte an den zahlreichen Igellöckchen auf ihrem Kopf und an den breiten, ihre Ohren bedeckenden Lockenrollen und versuchte, ihren Haarschmuck wieder in Form zu bringen, aber die Spannung war heraus. Da jede Locke einzeln
papillotirt
werden musste, war der Schaden nicht zu reparieren. Jedenfalls nicht auf die Schnelle. Eine Rüge der Mutter, die trotz ihrer Krankheit auf tadelloses Aussehen Wert legte, war ihr sicher. Henrietta schnitt eine Grimasse und sprach ihr Spiegelbild an: »Reg dich nicht auf, Henrietta von Zarenthin! Der Mutter kannst du es sowieso nicht recht machen, und hübsch bist du obendrein nicht. Und, bei Gott, du wirst es auch nie werden!«
    Doch das stimmte nicht. Zwar entsprach ihr Äußeres nicht dem landläufigen Schönheitsideal, aber sie hatte ein schmales, feines Gesicht, in dem die hohe Stirn, die grauen Augen und das energische Kinn die bestimmenden Merkmale waren. Sie hatte kräftiges lichtblondes Haar und eine reine, ebenmäßige Haut. Alles in allem war Henriettas Erscheinung eher apart als hübsch, eher herb als lieblich, was einen ihrer vorlauten Cousins irgendwann zu der Bemerkung verleitet hatte, sie habe das Gesicht eines Jungen und die Figur eines Bretts. Letzteres jedoch traf auf keinen Fall mehr zu, denn man schrieb mittlerweile das Jahr 1789, und Henrietta hatte vor wenigen Tagen, am einundzwanzigsten März, ihren siebzehnten Geburtstag gefeiert.
    »Henrietta!«
    »Ich komme ja schon!« Sie riss sich von ihrem Anblick los und eilte zu ihrer Mutter, die wie immer am Südfenster ihres Salons saß und einen japanischen Fächer in der Hand hielt. »Da bist du ja endlich.«
    »Entschuldigt, Mutter, ich wollte Euch nicht warten lassen, ich war nur gerade so vertieft.«
    »Wohl wieder in einen deiner medizinischen Wälzer? Kind, Kind, warum kannst du nicht etwas Gutes von Wieland oder Goethe lesen, wie es sich für eine junge Dame von Stand gehört? Immer nur diese blutrünstigen Werke, da wird einem ja schon beim Lesen ganz
plumerant.
«
    »Mir nicht, Mutter, warum habt Ihr mich gerufen?«
    »Weil es mir
misérable
geht. Und wenn ich mir deine Frisur anschaue, geht es mir gleich noch einmal so schlecht. Ich habe wieder mein Fieber. Bitte, unternimm etwas dagegen.«
    Henrietta legte ihre Hand auf die Stirn der Mutter. »Die Temperatur scheint mir nur leicht erhöht.«
    »Ich glühe!«
    »Soll ich den Doktor holen lassen?«
    »Nein, auf keinen Fall.«
    Henrietta
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