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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau
Autoren: Wolf Serno
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damals alles viel einfacher zu sein. Nun ja, jedenfalls habe ich meine Eintragung in der Matrikel, und das ist die Hauptsache.«
    »Was hat denn der Prorektor zu deinem Alter gesagt?«
    »Professor Lüder Kulenkamp, ein Philosoph, glänzte durch Abwesenheit. Er ließ sich durch einen
Adlatus
namens Fockele vertreten, der wohl auch die Stelle des
Secrétaires
einnimmt. Als ich dachte, ich sei mit allem durch, fing er an, mir einen Vortrag darüber zu halten, was man von einem Göttinger Studenten erwartet und wie er sich zu verhalten hat. Demnach soll ich mir die Teilnahme an jedem
Collegium
vorher genau überlegen, ich soll nie mehr als sechs
Collegia
in einem Semester hören, im ersten würden vier schon reichen, ich soll im Sommer spätestens um fünf, im Winter um sechs Uhr aufstehen, ich soll niemals bis spät in die Nacht hinein arbeiten, denn die Mitternachtsstunde mit ihrem erquickenden Schlaf gäbe dem Körper die meiste Energie, und nur in einer gesunden Hülle wohne ein gesunder Geist, ich soll nie im Bett lesen wegen der Feuergefahr, die entstünde, wenn man über seinen Büchern einschläft und die Kerze nicht gelöscht hat, ich soll von morgens bis mittags durcharbeiten, nur ein Frühstück von einer halben Stunde Dauer sei erlaubt, ich soll nach dem Mittagessen einen Spaziergang auf dem Wall machen, jedoch nicht länger als bis zwei Uhr, weil dann die
Collegia
wieder begännen, ich soll bis sieben Uhr am Abend weiterarbeiten und dann das Abendbrot einnehmen, ich soll mich reinlich halten und manierlich kleiden, ich soll mich von Burschenschaften fernhalten, ich soll Duelle vermeiden, ich soll mich den Bürgern gegenüber respektvoll verhalten, ich soll jungen Mädchen auf der Straße nicht nachpfeifen, ich soll üblen Kneipen, in denen gespielt und gehurt wird, aus dem Weg gehen, ich soll, ich soll, ich soll … Ich habe mich gewundert, dass er mir nicht auch noch vorschrieb, wann ich meine Notdurft zu verrichten hätte. Der Kerl war wie ein Wasserfall, ich wollte ihn ein paarmal unterbrechen, wollte ihm sagen, dass ich verheiratet und bald fünfzig bin, aber er war nicht aufzuhalten. Er sprach mit mir wie mit einem Sechzehnjährigen, dabei ist er selber erst höchstens dreißig!« Abraham blickte empört. »Und diesem dreißigjährigen Jüngelchen musste ich alles auch noch an Eides statt versichern.«
    »Ich glaube, der Student, der das alles einhält, muss erst noch geboren werden.« Alena goss Abraham noch etwas Kaffee nach.
    »Da hast du recht, Liebste. Am besten, ich konzentriere mich von jetzt an nur auf das Lernen und vergesse den ganzen Sermon.«
    »Sermon? Was für einen Sermon?« Unvermittelt betrat die Witwe die Küche. Sie trug an diesem Morgen keinen Kopfaufsatz, damit ihre frisch ondulierten Löckchen gut zur Geltung kamen.
    Abraham stand höflich auf. »Guten Morgen, Mutter Vonnegut.«
    »Guten Morgen, Julius. Bleib nur sitzen. Ich sehe, du trinkst einen Kaffee. Ich glaub, ich hätt auch gern ein Tässchen, geht das wohl, Alena? Danke, du bist ein tätig Ding. Aber auch ich hab heut Morgen schon einiges erledigt. Hab im Keller unten gesessen und ausführlich an meinen Sohn in Frankfurt geschrieben, es gibt ja genug Neues, das der Tinte wert ist, nicht wahr?« Die Witwe kicherte und trank. »Ah, der erste Schluck ist immer der beste!«
    »Du schreibst im Keller, Mutter Vonnegut?« Alena wunderte sich. »Ist es da nicht viel zu finster?«
    »Sehr hell ist es nicht gerad, aber die Äpfel liegen da, und wenn einer eine matschige Stelle hat, dann leg ich ihn mir neben Tinte und Feder.«
    »Du tust was?«
    »Ich leg ihn mir neben Tinte und Feder. Über alles rümpfen die Leut heutzutage die Nase. Sie wissen nicht, dass faules Obst den Geist beflügelt. Schiller, der Verseschmied, soll immer davon in der Schublade haben.«
    »Das wusste ich nicht«, sagte Abraham.
    »Jeder hat seine eigene Nase.« Die Witwe trank einen weiteren Schluck Kaffee. »Was für einen Sermon meintest du vorhin, Julius?«
    »Sermon? Ach so.« Abraham erzählte von Fockeles Vortrag, den er sich hatte anhören müssen.
    »Das ist trirum trarum!« Die Witwe machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich halte dafür, dass die Göttinger
Burschen
das Herz auf dem rechten Fleck haben. Man muss ihnen nicht alles vorkauen, damit sie’s am End wiederkäuen. Und wer andrer Meinung ist, der soll’s mir ins Gesicht sagen. Natürlich schlagen sie mal über die Stränge, aber das haben wir in unserer Jugend alle getan.«
    Abraham
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