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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau
Autoren: Wolf Serno
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Augenflüssigkeit durch die Lichtbrechung, durch die das Bild in der Netzhaut abgebildet wird, geometrisch nachwies …
    Er runzelte die Stirn, griff zu seinem Latein-Wörterbuch und übersetzte mit dessen Hilfe:
    § 
21
    Distincte obiectum videmus si omnes eius parte, nisi nimis parvae sint, quod magnitudinem formam et colorem distinguere …
    Er hielt inne, betrachtete sein Werk, war nicht sicher, ob alles stimmte, und schrieb deutsch weiter:
    … dadurch jedoch entsteht diese bildliche Wahrnehmung des Sehens, und es ist uns verborgen, was vielleicht nach EUKLID und PTOLEMAEUS , die das System des Ausflusses aus dem Auge durchdachten, die wahre und letztliche Ursache des Sehens war …
    In seine Gedanken hinein ging die Tür. Alena, die der Witwe in der Küche beim Kartoffelschälen geholfen hatte, erschien. Sie trug eine Schürze, an der sie sich die Hände abtrocknete, ehe sie an Abraham herantrat. »Na, Liebster, wie fließt heute das Latein aus der Feder?« Sie küsste ihn auf den Nacken.
    »
Molestissimus, molestissimus,
Liebste.« Er grinste etwas verlegen.
    »So mühselig?« Alena setzte sich neben ihn. »Vielleicht kann ich dir helfen.« Gemeinsam gingen sie die Texte durch, und Alena wies auf die eine oder andere Stelle hin, wo sie einen Fehler vermutete oder die Formulierung zu verbessern sei.
    »Ich wünschte, die Arbeit wäre endlich fertig«, sagte Abraham, »ich weiß genau, welche Punkte ich noch abhandeln will, es kostet alles nur so viel Zeit.«
    Alena nickte. »Und seitdem du im letzten Jahr ein Semester ausgesetzt hast, musst du in diesem Jahr noch eins dranhängen.«
    »Du weißt, warum. Wir waren so klamm im Beutel, dass ich über Monate Göttingens Umgebung abklappern musste, damit wir finanziell wieder auf die Beine kamen. Am Schluss kannte jeder Dörfler meine Puppen und meine Vorstellungen, von Bovende bis Rosdorf, von Wibbecke bis Gleichen.«
    »Während ich Mutter Vonnegut weiter zur Hand ging und darauf hoffte, in der Nachbarschaft möge jemand das Zeitliche segnen, damit ich den Hinterbliebenen meine Dienste als Klagefrau anbieten konnte.« Alena legte den Kopf an Abrahams Schulter. »Eigentlich versündigt man sich ja, wenn man darauf hofft, dass jemand stirbt, aber ich war genauso verzweifelt wie du.«
    Er drückte sie an sich. »Du und ich, wir halten zusammen, nicht wahr?«
    »Das tun wir.«
    »Nun lass mich weitermachen, ohne Dissertation werde ich nie ein Doktor werden.« Abraham wollte die Feder wieder ins Fass tauchen, aber Alena hielt ihn davon ab. »Du, Abraham?«
    »Was ist?« An ihrem Ton merkte er, dass sie etwas Wichtiges auf dem Herzen hatte.
    »Abraham, Mutter Vonnegut hat mich vorhin etwas gefragt, es war mir unangenehm, obwohl sie auf ihre Art ganz lieb und nett fragte, aber sie wollte wissen, ob sie das Zimmergeld fürs Sommersemester von dir pünktlich bekommen würde. Sie hätte eine Reihe von Auslagen und wäre auf das Geld angewiesen.«
    »Hat sie nicht immer ihr Geld bekommen?« Abraham klang empörter, als es angebracht war.
    »Doch, aber letztes Mal hast du die Stubenmiete erst zwei Monate später bezahlt – weil wir schon wieder so knausern mussten.«
    Abraham presste die Lippen aufeinander. Was Alena sagte, stimmte. »Und daran hat sich leider nicht viel geändert. Das Geld schmilzt hier in Göttingen dahin wie Butter an der Sonne. Allein, was ein Klafter gutes Buchenholz im Winter kostet, kann einen schon an den Bettelstab bringen. Dazu die Dinge des täglichen Bedarfs, von Tinte, Federn, Schreibpapier und Wachslichtern gar nicht zu reden. Vierundzwanzig Groschen wollen die Krämer neuerdings schon für ein Pfund Lichter haben! Alles das reißt große Löcher in die Barschaft.«
    »Wirst du ihr das Geld pünktlich geben?«
    »Das werde ich. Gleich nachher, wenn ich zum Abendessen runterkomme.«
    »Abraham?«
    »Ja, Liebste, was ist denn noch?« Abraham war in Gedanken schon wieder bei seiner Dissertation.
    »Wird unser Geld bis Semesterende reichen?«
    Abraham schwieg.
    »Wird unser Geld bis Semesterende reichen?«
    »Um ehrlich zu sein, nein. Ich habe nicht so viel Glück wie meine jungen Herren Kommilitonen, die jedes Vierteljahr einen Wechsel von zu Hause erhalten, aber darüber haben wir ja schon häufig gesprochen.«
    »Das haben wir.« Alenas Augen blickten düster. »Was soll dann werden?«
    Der Schiffer rief dazwischen: »Da mach dir man keine Sorgen, mien Deern!« Er saß in einer Ecke des Raums, neben sich den Söldner und Friedrich den
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