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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau
Autoren: Wolf Serno
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goldpaspelierten Dreispitz.
    »Muss es denn immer gleich eine Zote sein?«, fragte die Magd schüchtern ins Publikum.
    Daraufhin antworteten gleich mehrere Zuhörer. Manche riefen: »Ja!«, andere, und dazu gehörten die älteren Menschen, riefen: »Nein!«
    Ein alter Mann mit Holzbein nieste krachend und blinzelte heftig. Dann wischte er sich die Augen. Ob seine Tränen von einer Erkältung herrührten oder vom Lachen, blieb offen.
    Abraham, der noch immer inmitten der Leute stand, ließ seine Puppen weiter sprechen: »Ich habe neulich zwei Witze gehört«, sagte der Schultheiß, »sie sind allerdings nicht besonders deftig und werden dem jungen Herrn in dem dunkelblauen Rock vielleicht nicht gefallen: Ein Patient kommt zum Arzt und sagt: ›Ich glaube, ich habe ein Gerstenkorn!‹ Darauf der Arzt: ›Sehr schön, behaltet es im Auge.‹ So weit der eine Witz, der andere geht so: Der Professor kommt noch spät in der Nacht zu einem Patienten, um ihn zu untersuchen. Der Patient stöhnt: ›Das rechne ich Euch hoch an!‹ Darauf der Professor: ›Ich Euch auch.‹«
    »Haha, ich lache später!«, höhnte der Pommeraner. »Das wird ja immer schlimmer! Bin gespannt, wer nachher mit dem Hut herumgeht und für solch dünne Kost auch noch Geld einsammeln will. Ich jedenfalls werde nichts geben.«
    Einige im Publikum – Abraham registrierte es mit Schrecken – murmelten beifällig. Er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. War es richtig, dem vorlauten Rufer das Maul zu stopfen, vielleicht durch den Schiffer, der immer für eine unflätige Bemerkung gut war? Abraham entschied sich dagegen.
    Er versuchte es mit einem neuen Witz und ließ den Söldner rufen: »Der alte Doktor Eisenbarth war neulich auf dem Göttinger Friedhof! Er wollte die Patienten besuchen, die er zu Tode kuriert hatte. Und wie er so an den Gräbern vorbeigeht, hört er plötzlich Stimmen aus der Tiefe. Und wisst ihr, Leute, was die Stimmen sagten? ›Herr Doktor‹, sagten sie, ›habt Ihr etwas gegen Würmer?‹«
    »Den kannte ich schon!«, höhnte der Pommeraner und erstickte auf diese Weise jegliches Lachen im Keim. »Und alle anderen kannte ich auch schon. Das hier ist eine erbärmliche Vorstellung! Die ist keinen Pfennig wert!« Er genoss es sichtlich, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, und schien zu jener Spezies Mensch zu gehören, die Freude am mutwilligen Zerstören haben, egal, ob es sich um Gegenstände, Gefühle oder Darbietungen wie diese handelte.
    Abraham biss sich auf die Lippe. Er wäre dem Halunken am liebsten an die Gurgel gefahren, aber damit hätte er sich zu erkennen gegeben, und auch sein Plan, den Obolus am Ende durch einen kleinen Jungen einsammeln zu lassen, wäre nicht aufgegangen. Also ließ er es.
    Aber auch so ging sein Plan nicht auf. Die Leute begannen sich zu zerstreuen und strebten wieder dem Wall zu. Der Pommeraner gesellte sich zu ihnen, lachend, schwatzend und sich ganz offensichtlich mit seiner Tat brüstend. Der kleine Junge war ebenfalls verschwunden.
    Abraham stand allein da. Wut und Verzweiflung stiegen in ihm hoch. Es war das eingetreten, was niemals eintreten durfte: Ein einziger Zwischenrufer hatte ihm den Auftritt verdorben. Schwerwiegender noch: Der Kerl hatte ihn um seinen Lohn gebracht. Abraham ging zu seinen Puppen und begann, sie für den Heimtransport herzurichten. »Mach dir nichts draus«, sagte der Schiffer, »nächstes Mal klappt’s bestimmt, dann ruf ich den Leuten wieder zu: ›Öffnet eure Herzen, öffnet eure Beutel, aber öffnet nicht eure Hosen!‹«
    »Vielleicht«, murmelte Abraham.
    »Nach jedem Sturm kommt wieder Schönwetter, mien Jung! So wahr Neptun der Herr aller Meere, Flüsse, Bäche und Pissrinnen ist.«
    »
En avant,
wir haben nur eine Schlacht verloren, nicht den Krieg!«, rief Friedrich.
    »Auf Licht folgt Schatten, auf Schatten Licht«, sagte der Schultheiß bedächtig.
    »Mag sein, mag sein.« Abraham löste die Keile von den Rädern und schickte sich an, den Karren zurück zur Güldenstraße zu ziehen.
    »Seid Ihr derjenige, der den Puppen die Stimme verleiht?« Abraham fuhr herum. Vor ihm stand ein Jüngling, fast noch ein Knabe, im
Habit
der Göttinger
Burschen.
Er trug ein Kamelott aus festem, leicht glänzendem Zeug, wie es für das Garn der Angoraziege typisch ist, dazu ein weißes Hemd mit bauschigem Jabot. Auf dem Kopf trug er nichts, seine dunkelbraunen Haare waren in der Form des gerade modern werdenden Tituskopfs geschnitten.
    Im ersten Impuls
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