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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau
Autoren: Wolf Serno
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seitdem die Doktorwürde der philosophischen Fakultät. Stell dir vor, sie spricht nicht weniger als zehn Sprachen! Ihr Vater hat sie von klein auf unterrichtet. Professor Michaelis, der damalige Dekan, nahm die Prüfung vor, zusammen mit den Professoren Kaestner, Gatterer, Meister und Hollmann. Ist das nicht wundervoll! Dorothea ist die erste Frau Deutschlands mit Doktortitel!«
    »Du sprichst, als würdest du sie kennen.«
    »Ich kenne sie, und Therese Heyne, die Tochter von Professor Heyne, kenne ich auch.«
    »Soso, und nun wollt ihr Weibervolk auf einmal alle studieren, aber das ist, wenn mich meine bescheidenen Kenntnisse nicht trügen, noch immer verboten.«
    »Es ist ungerecht! Wer sagt denn, dass Männer klüger sind als Frauen?«
    »Die Frau sei dem Manne untertan, so steht es schon in der Heiligen Schrift, und gegen die Heilige Schrift willst du ja wohl nichts sagen?«
    Henrietta begann wieder zu weinen. Diesmal heftiger.
    »Nun, nun.« Der Baron kam sich recht hilflos vor. »Keine Tränen bitte. Ich habe die Gesetze doch nicht gemacht. Wenn ich’s ändern könnte, würde ich’s tun – vielleicht.« Er ging auf Henrietta zu und nahm sie tröstend in die Arme, den vorwurfsvollen Blick seiner Frau dabei missachtend. »Komm, geh auf dein Zimmer und mach dich zurecht, siehst ja ganz verheult aus. In einer halben Stunde ist Tischzeit, dann ist alles wieder vergessen.«
    Henrietta schniefte. »Ja, Vater, bestimmt hast du recht.« Sie reckte das Kinn vor und ging mit festen Schritten aus dem Salon, hinüber in ihr Mädchenzimmer. Sorgfältig schloss sie die Tür und trat abermals vor den großen Spiegel. Eine Zeitlang betrachtete sie sich. »
Au revoir,
Henrietta von Zarenthin«, sagte sie. »Wir sehen uns nie wieder.«
    Dann wandte sie sich dem großen Kleiderschrank zu. Sie öffnete ihn, schob ihre reichhaltige Garderobe beiseite und lauschte. Nein, niemand schien ihr gefolgt zu sein. Sie betätigte einen verborgenen Hebel und beobachtete, wie sich in der Hinterwand des Schranks eine zweite Tür öffnete. Weitere Garderobe wurde sichtbar. Keine kostbaren Kleider, keine raffinierten Röcke, keine Schuhe mit rotem Absatz, die dem Adel vorbehalten waren, sondern ausnahmslos einfache, praktische, haltbare Stücke. Langsam und mit einer gewissen Scheu begann sie die Stücke zusammenzupacken, denn es handelte sich um Kleidung, die ihr fremd war.
    Und die keineswegs zu einer jungen Dame von Stand passte.
     
     
    Julius Abraham saß im Puppenzimmer, das gleichzeitig sein Arbeitszimmer war, und kämpfte mit den Worten. Vor ihm lag seine Dissertation, die er vor über einem Jahr begonnen, aber noch immer nicht fertiggestellt hatte. Der deutsche Kurztitel lautete:
    ÜBER DIE INNEREN VERÄNDERUNGEN
DES AUGES .
    Der komplette lateinische Titel klang wesentlich eindrucksvoller:
    DISSERTATIO
    INAUGURALIS PHYSIOLOGICA.
    DE OCULI MUTATIONIBUS INTERNIS.
    QUAM CONSENTIENTE
    ILLUSTRI MEDICORUM ORDINE
    PRO SUMMIS IN ARTE SALUTARI HONORIBUS
    RITE IMPETRANDIS
    Nach Erlangung des Doktorgrades würde Abraham noch seinen Namen dazusetzen, natürlich latinisiert, sowie das Datum, an dem er sein Werk öffentlich verteidigt hatte. Er seufzte.
Die Inneren Veränderungen des Auges
waren ein weites Feld, aber sie waren auch ein bevorzugtes Gebiet von Professor August Gottlieb Richter, und jener wiederum war sein Doktorvater. Abraham hatte die Arbeit in Paragrafen untergliedert, was probat war und keine Schwierigkeit darstellte; schwieriger war für ihn, dass sämtliche Abhandlungen in Latein, der Sprache der Wissenschaft, zu erfolgen hatten. Zwar konnte er gut Latein lesen und auch verstehen, aber das Schreiben war doch eine ganz andere Sache. So hatte er es sich zur Angewohnheit gemacht, seine Gedanken zunächst in Deutsch abzufassen und anschließend ins Lateinische zu übertragen. Heute wollte er, im Vorfeld seiner Ausführungen über die Hypothesen zu den inneren Veränderungen des Auges, Allgemeines über die Lichtbrechung sagen. Er kaute auf dem Federkiel, schaute in sein
Libell,
in welchem er Richters Worte während der Vorlesung präzise festgehalten hatte, und schrieb dann etwas umständlich:
    § 21
    Wir sehen einen Gegenstand deutlich, wenn alle seine Teile nicht allzu klein sind, sich in Größe, Form und Farbe unterscheiden und sich alles gut eingegrenzt erkennen lässt. Der Erste, soviel ich weiß, der wahrhaft die Art des Sehens erklärte, war der hochbedeutende KEPLER , der die Tatsache der Strahlung in der
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